Allein im Südwesten sollen rund 70.000 Ältere rückwirkende Steuererklärungen abgeben. Foto: dpa

Finanzämter treiben zurzeit bei Rentnern mögliche Steuerschulden aus den zurückliegenden sieben Jahren ein. Dabei gehen die einzelnen Behörden ganz unterschiedlich und nicht immer mit der gebotenen Sensibilität vor.

Stuttgart - Im September 2012 hat Marianne Kästle (Name geändert) Post vom Finanzamt bekommen: Binnen vier Wochen solle sie eine Steuererklärung für 2010 abgeben. Das wunderte die 79-Jährige. Denn für ihre monatliche Pension von rund 1250 Euro zieht ihr die Besoldungsstelle bereits die Steuer ab, und für die 440 Euro, die sie zudem aus der Gesetzlichen Rentenversichrung bekommt, sah sie keinen Anlass für eine Steuererklärung. 2004 hatte ihr ein Sachbearbeiter im Finanzamt Stuttgart beteuert, sie werde nicht belangt – auf der damaligen Basis. Also sah sie keinen Grund, steuerrelevante Unterlagen wie Kontoauszüge oder steuermindernde Ausgaben aufzuheben. 2005 jedoch wurden mit dem Alterseinkünftegesetz die Regeln deutlich verschärft. Als sich das Finanzamt nun meldete, beantragte sie also zuerst eine Fristverlängerung für die Steuererklärung, die ihr auch gewährt wurde.

Zurzeit werden bundesweit Zehntausende Rentner nachträglich zur Steuer gebeten. Der Hintergrund: 2005 mussten sie erstmals 50 Prozent ihrer Renteneinkünfte versteuern, wenn diese einen gewissen Freibetrag überstiegen. Seither steigt jedes Jahr für die jeweils neu hinzukommenden Rentner der zu versteuernde Anteil (siehe Info). Doch erst seit Herbst 2009 haben die Finanzämter Einblick in die Bezüge der Ruheständler. Denn erst seit diesem Zeitpunkt melden Rentenversicherungsträger die Daten über die Bezüge an die Zentrale Zulagenstelle für Altersvermögen (ZfA), die sie elektronisch an die Finanzverwaltung weiterleitet – rückwirkend bis zum Jahr 2005.

Weshalb die Behörden erst Ende 2012 tätig wurden, ist schnell erklärt. Zunächst mussten bundesweit rund 30 Millionen Renteneinkünfte seit 2005 bewertet werden. Damit waren die Beamten einige Jahre beschäftigt. Erst seit 2012 verschicken sie Briefe an all jene, die seit 2005 keine Steuererklärung abgegeben haben, aus deren Unterlagen sie aber auf eine wahrscheinliche Steuerpflicht schließen. Allein in Baden-Württemberg wurden eine Million Überweisungen geprüft, 70.000 mögliche Nachzahler von ihnen angeschrieben. „Das heißt aber nicht, dass sie letztlich auch Steuer zahlen müssen“, betont der Sprecher der für den Südwesten zuständigen Oberfinanzdirektion Karlsruhe, Stefan Dreyer.

Ein Finanzamt dürfe nicht „sehenden Auges in die Verjährung gehen“

Zurück zu Marianne Kästle: Ende November lag das nächste Schreiben der Behörde im Briefkasten: Man schätze die Steuerveranlagung für 2005, weil diese zum 31. Dezember verjähre. Außerdem solle sie bis Mitte Januar die Steuererklärungen für die Jahre 2006 bis 2011 erstellen. Das alles war ein bisschen viel auf einmal für die ältere Dame. Zahlreiche Unterlagen aus diesem Zeitraum hat sie ja nicht mehr. Sie hatte das Gefühl, dass da „regelrecht Druck aufgebaut wurde“.

Nachdem es Jahre brauchte, um das Gesetz technisch umzusetzen, kann es jetzt nicht schnell genug gehen. Die Steuerbehörden gingen davon aus, dass die Steuererklärungen bis Anfang 2013 eingegangen sind. Besonders geärgert hat sich Marianne Kästle, als zwei Wochen später der Steuerbescheid für 2005 kam. Nicht wegen der Nachzahlungsforderung über knapp 500 Euro. Sondern wegen der Begründung für die zusätzlich berechneten Verzugszinsen über 153 Euro: Sie habe „trotz Aufforderung“ keine Steuererklärung abgegeben. Marianne Kästle hatte nie die Aufforderung bekommen, sondern lediglich besagte Mitteilung. Also legte sie schriftlich Widerspruch gegen die Verzugszinsen ein. Schon ein paar Tage später kam eine Mahnung, dass sie die Steuererklärung für 2011 noch nicht abgegeben habe. Inzwischen wurde der Widerspruch gegen die Verzugszinsen abgelehnt, „. . . da ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Zinsfestsetzung weder von Ihnen geltend gemacht wurden noch für mich ersichtlich sind“.

Der Sprecher des Finanzamts Stuttgart, Hans Auchter, räumt ein, dass „der Fall dumm gelaufen ist“. Gleichwohl dürfe ein Finanzamt nicht „sehenden Auges in die Verjährung gehen“. Die Rentner wüssten seit September, dass sie Einkommensteuererklärungen bis zurück auf 2005 abgeben müssen. „Weil nichts passiert ist, haben wir einige Fälle, in denen wir aufgrund der Zahlen davon ausgehen konnten, dass Steuer nachgezahlt werden muss, nochmals angeschrieben.“ Und Verzugszinsen seien nun mal gesetzlich vorgeschrieben. Vorwürfe über mangelnde Kundenfreundlichkeit weist Auchter zurück: „Wir machen keine Jagd auf Rentner.“

„Manche verschweigen ihre Betriebsrente oder Mieteinnahmen“

Und doch gibt es Unterschiede im Umgang mit betagten Steuerzahlern. In einem Pflegeheim in Ostfildern lebt der 89-jährige Gerd B., ebenfalls ein potenzieller Nachzahler. Auch er wurde aufgefordert, seine Steuererklärung für 2010 zu erstellen, hatte keine Quittungen mehr und Mühe, die Zahlungseingänge und -ausgaben nachzuweisen. Das Finanzamt gab ihm zwei Monate Zeit für die Steuererklärung 2010. Erst nach Ablauf dieser Frist wurde er gebeten, die Daten für 2009 nachzureichen. „In höflicher Weise wurde mein Vater informiert und ihm angeboten, er könne gern persönlich mit den Unterlagen vorbeikommen, wenn er Beratung benötige“, erzählt sein Sohn. Und anders als bei Marianne Kästle wurde nicht die mögliche Steuerschuld von 2005 geschätzt.

Amtsleiter Hansjörg Pflüger kann nachvollziehen, welche Aufregung die Flut nachträglicher Steuererklärungen unter Älteren auslösen kann: „Wir sind da großzügig“, sagt er. „Die meisten der Angeschriebenen haben keine Kontoauszüge mehr von 2005“, sagt er. Lieber hake man an anderer Stelle nach. „Manche verschweigen ihre Betriebsrente oder Mieteinnahmen. Bei einem solchen Verdacht werden wir natürlich aktiv.“

So viel Fingerspitzengefühl hätte sich Marianne Kästle auch gewünscht. „Ich habe kein Problem, Steuern nachzuzahlen“, sagt sie. „Aber es ist nicht in Ordnung, wenn der Wohnort entscheidet, ob ich veranlagt werde.“ Damit werde der Grundsatz der Gleichbehandlung von Steuerpflichtigen missachtet.