Auf dem Weg in die Natur: Bernd steuert den elektrischen Liegerollstuhl mit dem Joystick in Richtung Baggersee, Christian gibt gerne Manövriertipps. Foto: Gottfried Stoppel

Sie teilen das große Haus in Karlsruhe und den selben schrägen Humor: Bernd kümmert sich seit 20 Jahren um den schwerstbehinderten Christian – er hat ihn bei sich aufgenommen. Ein ungewöhnliches Pflegemodell.

Karlsruhe - Nichts passiert. Kein Zentimeter bewegt sich das rechte Bein. Es ist angewinkelt und dünn, Haut und Knochen und eine graue Leggins darüber. Der Fuß ist seltsam verkrümmt, die Zehen sind nach innen gedreht. Christian Kenk hockt auf der Matratze und will vorwärts. Doch sein Bein gehorcht nicht. „Das ist immer ein Kampf“, sagt der 41-Jährige und lächelt verschlafen. „Ich gegen den Muskel.“ Da helfe weder Zwang noch Wille, er müsse einfach warten.

Der Morgen beginnt langsam und spät, es ist nach 11 Uhr und die Herbstsonne blinzelt durch die Magnolienblätter ins Zimmer. Christian kauert mit angezogenen Beinen auf dem Doppelbett, halb benommen, einen Zipfel Daunendecke im Arm. Alles an ihm wirkt zart, wie bei einem Schmetterling, der gerade geschlüpft ist. Die Valiumpräparate vom Abend wirken nach, Aufwachen dauert Stunden. Alleine aufstehen geht gar nicht, denn Christian hat Dystonie, eine Bewegungsstörung, die ihm bereits als Kind die Kontrolle über seine Muskeln genommen hat. „Ich habe bloß einen Gendefekt“, sagt Christian über seine Behinderung und zeichnet beim Wort „bloß“ mit den Fingern etwas in die Luft, das aussieht wie Gänsefüßchen. Er spricht mit verwaschener Stimme, man muss genau hinhören, um ihn zu verstehen. „In meinem Hirn herrscht dort Chaos, wo die Befehle für Bewegungen gegeben werden.“

Jede Menge Geduld braucht auch Bernd Mann, sein Oberkörper ist kräftig, der Haaransatz weit nach hinten gerutscht. Er hat Christian mit einem Waschlappen den Schlaf aus den Augen gerieben, ihm im Liegen die Zähne geputzt. Er hat ihm das Gesicht eingecremt und ihm Fruchtsaftschorle zu trinken gegeben. Mit einem Strohhalm aus einem Glaskrug, um die Medikamente runterzuspülen, vier Tabletten. Den Rest aus dem Krug hat er selber getrunken. Jetzt sitzt er am Rande des Betts und wartet. „Gehen wir runter?“, hat er gefragt und sich so hingesetzt, dass Christian halbwegs bequem auf seinen Rücken krabbeln kann.

Wenn das rechte Bein mitmacht. Wenn er es vorwärts schafft, auf den Knien, nur zwanzig Zentimeter auf der Matratze, mit ein bisschen Schwung und zwei Armen, die ausholen. Dann sitzt Christian huckepack bei Bernd, ganz eng, ganz sicher. Sie halten sich an den Händen, die Wangen berühren sich. Bernd trägt Christian durch das Haus in Karlsruhe und durchs Leben – seit vielen Jahren, seit er ihn als Zivi in einer Kinderklinik in Maulbronn kennengelernt hat.

„Du bist verrückt“, hat Bernd zu hören bekommen.

Ziemlich beste Freunde sind sie, auf eine Weise wie sie nur wenige verstehen. „Du bist verrückt“, hat Bernd zu hören bekommen, als er sich vor 20 Jahren entschied, mit Christian unter einem Dach zu leben und auf der Matratze neben ihm zu schlafen. Denn Christian braucht rund um die Uhr Betreuung, selbst auf dem Klo muss er gehalten werden. „Du hast ein Helfersyndrom, du opferst dich auf“, wurde er attackiert und erhielt mehr gute Ratschläge, als ihm lieb war.

Sie sind ein ungleiches Team, sie sind Freunde, aber kein Paar. Da ist Bernd, der Verwaltungswirt, 46, aufgewachsen auf einem Bauernhof in Vaihingen an der Enz. Einer, der nicht wegschauen kann, wenn er Missstände sieht, und Glück hatte, weil er gesund zur Welt kam. Da ist Christian, Sozialhilfeempfänger und Pflegestufe III, er wurde von Klinik zu Heim zu Internat gereicht, seit bei ihm im Alter von sechs Jahren die Krankheit ausbrach. Erst zog er nur ein Bein nach, innerhalb von wenigen Monaten konnte er nicht mehr gehen. Er hatte Pech, ein schwieriger Fall für die Ärzte, ein Scheidungskind, das irgendwann nicht mehr zu Hause versorgt werden konnte – zu aufwendig war seine Pflege.

Die morgendliche Huckepackreise endet am fünf Meter langen Holztisch, dem Mittelpunkt des Wohn- und Küchentrakts. Bernd setzt Christian sacht auf die Matratze, die sich an der Tischkante entlang verschieben lässt – winters näher ran zum Schwedenofen, sommers Richtung riesiger Fensterfront in den Garten. Ein befreundeter Architekt hat das Haus so umgebaut, dass es luxuriös wurde und einfacher für alle. Es gibt einen großen Duschbereich, wo Christian auf einer Gummimatte kniet und von Bernd abgebraust wird. Neben der Treppe führt eine breite Rampe ins Haus. Die ist ideal für den elektrischen Liegerolli, den Christian mit einem Joystick steuern kann.

Exakt greifen fällt Christian schwer – er braucht Hilfe beim Frühstück

Beim Frühstück muss er sich helfen lassen. Zwei halbe Vollkornsemmeln mit Marmelade, in kleine Stücke zerschnitten, liegen auf dem Teller. Stück für Stück bekommt sie Christian in den Mund geschoben, exakt greifen fällt ihm schwer. Zwischendurch gibt es frisch gebrühten Pfefferminztee. Bernd hält ihm die Tasse hin, samt Strohhalm, Christian reagiert nicht, seine Muskeln lassen sich Zeit. „Hey Alter, ich bin keine Bedienung auf dem Wasen“, treibt ihn Bernd an – und beide schmunzeln.

Er könne nicht für alle Christians auf der Welt da sein, nicht alle Behinderten versorgen. Aber dem einen, dem wolle er es so schön wie möglich machen, sagt Bernd am Frühstückstisch und vergisst ganz, selbst etwas zu essen. Was immer er sich in den Kopf setze, ziehe er auch durch. Bernd hat seinen Job als Berufsbetreuer aufgegeben, um für Christian da zu sein. Jahrelang legte er sich mit den Behörden und den Gerichten an, bis er ein Modell erstritten hatte, das maßgeschneidert und durchfinanziert ist. Das Karlsruher Sozialamt zahlt 13 000 Euro im Monat, dafür pflegen Bernd und drei andere Assistenten Christian abwechselnd zu Hause. Den Überblick und die meisten Stunden hat Bernd, er managt alles: von den Hausbesuchen des Physiotherapeuten über die Lebensmitteleinkäufe bis zu den Dienstplänen für das Betreuungsteam. Und andere anspornen, Ähnliches zu wagen, will er auch – mit einem Bestseller, wie er hofft. Die ersten Exemplare von „Schwer behindert, leicht bekloppt“ hat Bernd schon zugeschickt bekommen. Er will auf Deutschlandtour – mit Christian und den Büchern. Dafür hat er sogar eine Crowdfunding-Aktion gestartet.

Bernd hat kaum Zeit für sich selbst und seine Söhne

„Es fühlt sich richtig an so“, sagt Bernd und hat kaum Pausen für sich und seine zwei Adoptivsöhne, die mit im Haus leben. Von seiner Frau hat er sich getrennt, es klappte nicht mehr miteinander. Mehr als fünf Stunden schläft er selten. Um sich fit zu halten, schwitzt er auf dem Crosstrainer im Keller oder drückt Geräte beim Polizeisportverein Karlsruhe – da haben sie eine Familienmitgliedschaft. Neulich war er mit seinem 16-jährigen Sohn Aaron in Frankreich zwei Wochen angeln, einer der seltenen Urlaube ohne Christian. Denn meist ziehen sie zu zweit los, der Kranke und der Gesunde, der, der laufen kann, und der, der getragen wird. Im Wohnmobil sind die beiden schon bis Aleppo gefahren, kurvten durch Norwegen und wollen unbedingt noch in die USA reisen. „Hotels kannst du vergessen“, sagt Bernd. Die Aufzüge sind oft zu klein, die Bäder zu beengt.

Sie wollen raus an diesem sonnigen Tag, sie wollen das machen, was sie beide begeistert: Vögel beobachten an einem nahe gelegen Baggersee. Bernd holt den Rollstuhl ins Wohnzimmer, Modell Adventure, bis zu sechs Stundenkilometer schnell. Er hat eine gepolsterte Liegefläche, 1,70 m lang, mit Haltegriffen und Seitenstützen, die verhindern sollen, dass Christian herausfällt. Was trotzdem gelegentlich passiert. „Ich bin schon siebenmal umgekippt“, weiß Christian ganz genau. Bei einem Ausflug zum Hochmoor Kaltenbronn habe er absichtlich auf eine Kuhle im Weg zugesteuert. Er mag es, wenn es holpert, dann spürt er sich und den Untergrund. „Du bist damals kopfüber nach vorne gekippt“, erinnert sich Bernd. „Und spektakulär zur Seite“, ergänzt Christian, „das war Fun.“ Ernsthaft verletzt hat er sich bei den Stürzen noch nie, seinen Helm lässt er zu Hause.

Der Hirnschrittmacher hat Christian ruhiger gemacht

Der Knielinger See ist nur eine kurze Autofahrt entfernt. Der Liegerollstuhl darf im Anhänger mit, Christian auf der Rückbank, auf einer hellblauen Flauschedecke. Seit er vor zwei Jahren einen Hirnschrittmacher implantiert bekommen hat, ist er ruhiger geworden. Mit der elektrischen Sonde im Gehirn hat das Zucken und Zappeln nachgelassen. Er reibt sich nicht mehr wund, die Ekzeme am Hinterkopf sind verschwunden, auch die Platzwunde, die er sich an der Tischkante geholt hatte. Nur gelegentlich fliegen die Arme in die Luft, folgt der Körper der Stabführung eines unsichtbaren Dirigenten.

Am Waldweg angekommen krabbelt Christian allein vom Rücksitz auf den Rolli, greift sich den Joystick und fährt los Richtung Wasser und Fischerboote. Mit der rechten Hand lenkt er den 100-Kilo-Koloss, die Spaziergänger schauen ihm unterwegs erstaunt nach: Er plaudert und scherzt, er kniet mit dem Oberkörper nach vorne gebeugt auf seinem abenteuerlichen Gefährt, nur ungern gibt er im schwierigen Gelände die Kontrolle an Bernd ab.

Was Vögel angeht, ist Christian allen haushoch überlegen. Er sieht als Erster den Schwarm Kormorane am Ufer des Baggersees und macht mit seinem Wissen jedem Diplombiologen Konkurrenz. Seine morgendliche Trägheit ist im Freien schnell verschwunden, hellwach mustert er die Umgebung, lauscht den Vogelstimmen. Er braucht nur drei Sekunden: „Rechts eine Bachstelze, links ein Mäusebussard und im Hintergrund die Südtangente.“

Die Landschaft wirkt besser als jedes Valiumpräparat. Die auf den Rücken strahlende Sonne entspannt ihn, ein leichter Wind streicht über den Kopf der Ausflügler hinweg. Minutenlang kann Christian stillhalten und durch das Fernrohr schauen, das Bernd aufgebaut hat, es ist ein Geschenk seines Vaters. „Da habe ich einen schrägen Vogel entdeckt“, scherzt Christian und lässt sich das Spektiv nachjustieren. Ohne große Worte verstehen sich die beiden. Ein Leben ohne Bernd kann Christian sich schon lange nicht mehr vorstellen. Und Bernd geht es genauso.