Spurensicherung an einem Auto: Bei der Aufklärung spielt die Kriminaltechnik auf der Suche nach kleinsten Hinweisen eine wichtige Rolle. Foto: Andreas Rosar Fotoagentur Stuttgart

Nach einem Unfall auf und davon – das macht inzwischen fast schon jeder vierte Verursacher. Bedenklich ist, dass die meisten damit durchkommen – sogar wenn es Verletzte gibt. Warum ist die Erfolgsquote der Polizei derzeit im Keller?

Stuttgart - Was soll man da noch ermitteln? Ein graues Auto sei’s gewesen, und die Fahrerin habe Englisch gesprochen. Das ist alles, was die verletzte Radfahrerin nach dem Unfall im Industriegebiet in Vaihingen mitteilen kann, als sie Anzeige beim Polizeiposten erstattet. Kein Kennzeichen, keine Zeugen. Außerdem war der Unfall bereits am Vortag. Eine Autofahrerin hatte beim Linksabbiegen nicht aufgepasst und war gegen die entgegenkommende 53-jährige Radfahrerin geprallt. Nach kurzer Unterhaltung mit der Verletzten verschwand sie spurlos.

Ein fast hoffnungsloser Fall für die achtköpfige Unfallfluchtermittlungsgruppe der Stuttgarter Polizei, der sich Anfang Juni zugetragen hat. „Ohne Spuren und ohne Zeugen gibt es kaum mehr Ermittlungsansätze“, sagt Polizeisprecher Olef Petersen. Offenbar ist dies immer öfter der Fall: Die Aufklärungsquote bei Unfällen, bei denen die Verursacher Verletzte zurücklassen, ist letztes Jahr in Stuttgart auf ein trauriges Rekordtief gesunken. 36 Prozent – damit kommen statistisch fast zwei von drei Verursachern ungeschoren davon.

Verräterische Gummilippe im Frontspoiler

Eine Erklärung für den Stuttgarter Ex-tremfall haben die Verantwortlichen nicht. Parkplatzrempler, die die Mehrzahl der 5906 Unfallfluchten ausmachen, haben mit etwa 30 Prozent eine gleichbleibend niedrige Aufklärungsquote über all die Jahre. Bei Personenschäden aber versucht die Polizei stets über die inoffizielle magische Marke von 50 Prozent zu kommen. Eine Messlatte, die allerdings auch im Land gerissen wird. Nach 49,2 Prozent im Jahr 2015 sank die Quote auch im Jahr 2016 – auf 47,9 Prozent.

Wie kann das sein? Sind die Möglichkeiten über umfangreiche Lackfarbenverzeichnisse, Leuchtendateien für Scheinwerferglassplitter oder der Zugriff auf Daten in elektrisch verstellbaren Außenspiegeln nicht größer geworden? Sogar die Gummilippe eines zurückgebliebenen Frontspoilers hat eine Nummer. Damit konnte vor Jahren die Besitzerin eines älteren Renault Clio ermittelt werden, die in Plieningen einen 49-Jährigen beim Reifenwechsel umgefahren und schwer verletzt hatte. Über die Daten der Zulassungsstelle stießen die Beamten auf eine 91-Jährige aus dem Stadtbezirk.

Verletztes Kind wird auch noch beschimpft

5906 Unfallfluchten gab es im letzten Jahr in Stuttgart – und bei 146 Unfällen blieben Verletzte zurück. Die Fahnder konnten nur 53 Verursacher ermitteln – das sind 36 Prozent. Unbekannt blieb etwa die ältere Autofahrerin, die im April in Zuffenhausen einen Elfjährigen auf einem Zebrastreifen angefahren hatte – und das Kind lautstark schimpfend verletzt zurück ließ. Im Jahr davor, als es 6019 Unfallfluchten gab, wurden 88 Verursacher von 163 Unfällen mit Verletzten ermittelt – somit 54 Prozent. Im Jahr 2009 lag der Wert noch bei 60 Prozent, im Jahr 2000 sogar bei 100 Prozent.

Wie wichtig Zeugen sind, zeigt der spektakuläre Fall im November 2016, als zwei Fußgängerinnen in der Hauptstätter Straße in der Innenstadt bei Grün über die Fußgängerfurt liefen und von einem Citroen angefahren und verletzt wurden. Der Fahrer raste davon. Zeugen dokumentierten mit Smartphones das Kennzeichen. Der 56-Jährige wurde in Leonberg aufgespürt – nachdem er sich vergeblich in seiner Wohnung verschanzt hatte. Der Mann stand deutlich unter Alkoholeinwirkung.

Quote in der Region besser als im Land

Allerdings sieht es nicht danach aus, als ob 2017 die Arbeit einfacher würde. Die Liste der Fälle ohne Spuren ist lang: Eine Schülerin, die im Januar in Gablenberg auf einem Zebrastreifen angefahren wurde, ein schwer verletzter Achtjähriger im Februar auf der Waldau, der Fahrer eines Kleinwagens mit Pforzheimer Kennzeichen, der im Mai in Bad Cannstatt eine Stadtbahn ausbremste und vier Verletzte verschuldete.

Nicht ganz so düster sieht es in der Region aus – dort liegt die Erfolgsquote bei über 50 Prozent. Im Kreis Esslingen mit 3562 Unfallfluchten wurden 54,2 Prozent der Fälle mit Verletzten geklärt. Im Kreis Ludwigsburg, wo es 3441 Fluchten mit 97 Verletztenfällen gab, beträgt diese Quote 52,6 Prozent. Im Kreis Böblingen, wo bei 2622 Unfallfluchten in 88 Fällen Verletzte zurückblieben, kann die Polizei gar eine Erfolgsquote von 62,5 Prozent vermelden.

Aber stets gilt: Zeugen sind wichtig. Der Unbekannte, der am 28. Januar dieses Jahres beim Spurwechsel auf der A 81 an der Anschlussstelle Feuerbach eine Karambolage mit drei Verletzten samt Vollsperrung zurück ließ, ist entkommen. „Keine Zeugen“, sagt Polizeisprecher Peter Widenhorn.

Der Täter war diesmal der Gaffer

Glücklicher ging es vor zwei Wochen in Remshalden (Rems-Murr-Kreis) zu. Ein 69-jähriger Autofahrer, der einen Radler angefahren hatte, kehrte als vermeintlicher Gaffer an den Unfallort zurück. Seine Neugier kam einem Zeugen verdächtig vor – sein Hinweis brachte die Polizei auf die Spur.

Ein Lichtblick: Der Unfall in Vaihingen ist nun doch geklärt. Die Englisch sprechende Autofahrerin hat sich beim Revier Flughafen gemeldet. Die 50-jährige Ehefrau eines US-Soldaten gab an, dass sie ihr silberfarbenes (nicht graues) Auto in einer Seitenstraße abgestellt hatte – und dann habe sie die Radfahrerin aus den Augen verloren.