An diesem Bahnübergang ist Rosemarie Müller (am Schild in der Bildmitte) im Juni 2019 gestürzt. Foto: Alexandra Kratz

Eine Seniorin stolpert am neu gestalteten Gleisübergang in Stuttgart-Möhringen, fällt auf das Gesicht und schlägt sich fünf Zähne ab. Sie sieht die SSB in der Pflicht, sich an den Kosten für ihren Zahnersatz zu beteiligen. Doch der Verkehrsbetrieb ist dazu nicht bereit.

Möhringen - Rosemarie Müller hofft, dass sich die Stuttgarter Straßenbahnen AG (SSB) doch noch bewegt. Dass der Verkehrsbetrieb ihr vielleicht aus Kulanz einen Teil der Kosten für ein Zahnimplantat erstattet. Ein solches ließ sich die 86-Jährige anfertigen, nachdem sie im Juni 2019 am Möhringer Bahnhof stürzte und sich fünf Zähne abschlug. Das Implantat kostete Rosemarie Müller gut 12 000 Euro. Der Zuschuss, den die Krankenkasse übernahm, ist da schon abgezogen. Die Rentnerin investierte ihre Ersparnisse. Sie sei sich sicher gewesen, dass die SSB ihr helfen würde, sagte sie bei einem Vor-Ort-Termin am Dienstagmorgen.

Der Möhringer Bahnhof war gerade eben wieder freigegeben worden, als Rosemarie Müller dort stürzte. Die SSB hatte die Gleise erneuern und die Bahnübergänge umgestalten lassen. Letztere waren früher eben. Dunkelgraue Noppensteine signalisierten mit ihrer Farbe und ihrer besonderen Struktur Beginn und Ende des Gleisbereichs. Nun tut das ein sogenanntes Rundboard. Mit diesem ist ein etwa drei Zentimeter hoher Absatz entstanden. Und eben jener wurde Rosemarie Müller im Juni 2019 zum Verhängnis.

Die Rentnerin lief im Strom der Menschenmenge mit – nicht schnell, aber auch nicht gerade langsam, wie sie sagt – stolperte über die neue Kante, stürzte auf das Gesicht und schlug sich fünf Zähne ab. Sie meldete den Unfall direkt bei einem Stadtbahnfahrer, der sehr freundlich gewesen sei. Es folgte ein umfassender Briefverkehr mit der SSB. Die Quintessenz: Der Verkehrsbetrieb ist nicht bereit, sich an den Kosten für das Zahnimplantat zu beteiligen.

Mitglieder des Petitionsausschusses laden zum Vor-Ort-Termin

In ihrer Verzweiflung wendete sich Rosemarie Müller an den Petitionsausschuss des Landtags. Dessen Aufgabe ist es, sich mit Eingaben von Bürgern zu befassen, die sich durch eine Landesbehörde ungerecht behandelt fühlen. Der Petitionsausschuss darf – im Unterschied zu Gerichten – nicht nur die Rechtmäßigkeit einer behördlichen Entscheidung überprüfen, sondern auch deren Zweckmäßigkeit.

Um das zu tun, machten sich Siegfried Lorek (CDU) und Andreas Kenner (SPD) stellvertretend für das Gremium ein Bild vor Ort. Vertreter der SSB, des Verkehrsministeriums und des Regierungspräsidiums erläuterten die Rechtslage. Das Ziel sei es, weitgehend barrierefrei zu bauen, sagte Peter Krauß, Fachbereichsleiter bei der SSB. Doch Maßnahmen, die für eine Personengruppe eine Verbesserung seien, seien manchmal für andere eine Verschlechterung. Mit dem neuen Rundboard sei eine Tastkante für diejenigen entstanden, die mit einem Blindenstock unterwegs seien. Diese Tastkante sei für sehbehinderte Menschen „überlebensnotwendig“, sagte Krauß. Und für die SSB sei sie entsprechend der DIN-Norm 18040 Vorschrift. „Daran haben wir uns zu halten“, betonte der SSB-Mitarbeiter.

Das Rundboard am Möhringer Bahnhof sei mit dem Amt für öffentliche Ordnung als Aufsichtsbehörde abgestimmt. Alle Haltestellen in Stuttgart würden sukzessive entsprechend dieser Maßgabe umgebaut. Die Vertreter des Verkehrsministeriums und des Regierungspräsidiums bestätigten die Ausführungen des SSB-Fachbereichsleiters.

Die SSB habe nichts falsch gemacht, sagt der Fachbereichsleiter

Doch Krauß räumte ein, dass die Tastkante für gehbehinderte Menschen eine Verschlechterung darstellen könne, zum Beispiel, wenn sie mit einem Rollator unterwegs seien. Und ja, man könne natürlich auch stolpern. Aber das könne einem genauso gut an jeder anderen Kreuzung passieren. „Es ist sehr bedauerlich, das hier jemand zu Schaden gekommen ist. Aber die SSB hat nichts falsch gemacht“, betonte Krauß. Sein Kollege Reinhold Schröter ergänzte, dass man bei der Gestaltung der Bahnübergänge alle Sinne anspreche. So folgen auf die grauen Pflastersteine das weiße Rundboard und dann der schwarz asphaltierte Bahnübergang. Das sei ein „durchdachter Ansatz“.

Rosemarie Müller argumentierte, sie sei nicht die Einzige, die an dem Bahnübergang gestürzt sei. In der Anfangszeit habe es quasi jede Woche einen Unfall gegeben – darunter seien auch schwerwiegende Stürze gewesen. So wie bei einem Mann, der am Dienstag ebenfalls vor Ort gewesen ist. Die neuen Rundboards mögen der Norm entsprechen, sagte er. Aber wenn diese neue Norm Unfälle produziere, müsse sie hinterfragt beziehungsweise geändert werden.

Petitionsausschuss könne nicht zu Kulanz zwingen

Die Ausführungen der SSB seien verständlich, sagte Ingrid Schulte als Vertreterin des Stadtseniorenrats. Das bringe Rosemarie Müller in ihrer finanziellen Not aber nicht weiter. „Die Frage ist, ob es eine Möglichkeit gibt, ihr zu helfen“, sagte Schulte. Die Behindertenbeauftragte der Stadt Stuttgart, Simone Fischer, betonte, dass Krankenkassen beim Thema Zahnersatz nur einen sehr kleinen Teil der Kosten übernehmen und für Patienten daher schnell hohe Beträge zusammenkommen.

Siegfried Lorek und Andreas Kenner machten deutlich, dass sie das Anliegen so wie jede andere Petition auch ernst nehmen. „Darum sind wir heute trotz Corona hier“, sagte der CDU-Politiker. Der Unfall sei in jedem Fall tragisch gewesen. Lorek betonte aber auch: „Zu Kulanz können wir nicht zwingen.“