Rekonstruktion eines tödlichen Fußgängerunfalls 2012 in Bietigheim: Hätte der Autofahrer die dunkle Gestalt im Scheinwerferlicht schneller erkennen müssen? Foto: Leif Piechowski

In Baden-Württemberg hat es 2012 so wenig Verkehrstote wie noch nie gegeben. Ein erfreulicher Trend – der aber nicht für die Region Stuttgart gilt. Der Blick auf die Hintergründe zeigt, dass bei Fußgängern das Gefahrenbewusstsein viel größer sein müsste.

Stuttgart - Zwischen Leben und Tod liegen oft nur Zentimeter und Zehntelsekunden. Seit wenigen Tagen liegt der Staatsanwaltschaft ein Gutachten auf dem Tisch, das die Frage beantworten soll, ob eine 67-jährige Fußgängerin noch leben könnte, wenn der BMW-Fahrer, der die Frau auf der B 27 bei Bietigheim-Bissingen erfasst hatte, anders reagiert hätte. Oder ob alles unvermeidbar war. Die Frau ist eine von 71 Verkehrstoten – zwei mehr als im Jahr davor – auf den Straßen der Region 2012. Und eine der 15 Fußgänger, die ihr Leben verloren.

Der tödliche Unfall vom 2. November 2012 bei der Kammgarnspinnerei zwischen Bietigheim und Besigheim im Kreis Ludwigsburg ist akribisch nachgestellt worden. Die 67-jährige Spaziergängerin war an jenem Tag bei Dunkelheit und Regen über die Straße gelaufen, hinter ihrem 72-jährigen Ehemann, der die andere Straßenseite noch sicher erreichte. Die Frau aber wurde erfasst und getötet – von einem 43-jährigen BMW-Fahrer, der auf dieser Strecke mit 100 Kilometern pro Stunde fahren durfte.

Wann konnte der Autofahrer die Frau erkennen?

Auf den ersten Blick sieht es so aus, als ob die Frau zu leichtsinnig war oder zu viel riskiert hatte – doch das war nicht die Frage, als Polizeioberkommissar Marco Kroll und zwei Sachverständige der Dekra zusammen mit der Feuerwehr als Regenmacher die Szene am Unfallort nachstellten. Die Frage der Aktion, bei der die B 27 für drei Stunden gesperrt wurde, lautete vielmehr: Wann konnte der Autofahrer die Frau überhaupt erkennen?, so Ermittler Kroll.

Dazu wurde nicht nur der Unfallwagen wieder an die Unglücksstelle gekarrt, sondern auch die Originalkleidung der Fußgänger. Die Frau trug eine weiße Jacke, eine schwarze Hose mit weißen Seitenstreifen, einen schwarzen Hut. Ihr Mann war komplett dunkel gekleidet. Dazu Straßennässe und Regen, der das Licht glitzernd reflektiert. Die Daten eines Leuchtdichten-Messgeräts sind entscheidend, ob sich der BMW-Fahrer womöglich wegen fahrlässiger Tötung verantworten muss. Er kann für sich nur hoffen, dass die Erkennbarkeit deutlich unter 100 Metern liegt. Denn dann hätte er nicht mehr reagieren können.

28 Meter legt das Auto während der Reaktionszeit des Fahrers zurück. Der Bremsweg auf Nässe beträgt rechnerisch 77 Meter. Somit beträgt der Anhalteweg eines Autos bei Nässe und 100 km/h insgesamt 105 Meter. Entscheidend ist, ob der 43-Jährige das Hindernis schon deutlich vor diesen 100 Metern hätte erkennen können. Die vorliegenden Zahlen des Gutachtens sind vorerst Geheimsache: „Das Verfahren ist voraussichtlich erst in ein paar Wochen abgeschlossen“, sagt Harald Lustig von der zuständigen Heilbronner Staatsanwaltschaft.

Besonders hoch ist der Anteil der Fußgänger unter den Getöteten in Stuttgart

Fußgänger leben gefährlich – es müsste ihnen nur mehr bewusst werden. Besonders hoch ist der Anteil der Passanten an den Verkehrstoten im Kreis Esslingen – fünf von 13. Der erste Fall spielte sich am 7. Januar in Bempflingen ab, als eine 82-Jährige von einer rangierenden Autofahrerin übersehen wurde. Zuletzt starb am 21. Dezember ein dunkel gekleideter 77-Jähriger, der abends in Kirchheim/Teck von einem Mercedes angefahren wurde.

Noch höher ist der Anteil der Fußgänger unter den Getöteten aber in Stuttgart: Fünf von zehn – also jeder zweite. „Dabei muss man feststellen, dass bei Fußgängerunfällen die Passanten zu einem großen Anteil selbst die Ursache gesetzt haben“, sagt Harald Trunk von der Stuttgarter Verkehrspolizei. Zuletzt lag der Anteil bei über 40 Prozent. Jeder Zweite war unachtsam über die Straße gelaufen, jeder Fünfte hat die Wartepflicht, etwa an einer roten Ampel, missachtet. Dabei gibt es in der Landeshauptstadt besondere Gefahrenstellen: Gleisüberwege. Drei Frauen im Alter zwischen 26 und 80 Jahren liefen unachtsam über die Schienen, wurden von einer Stadtbahn erfasst und getötet.

In Göppingen hat sich die Zahl der Unfalltoten verdreifacht

Die Polizei in Göppingen hat ein besonderes Problem mit der Verkehrsstatistik. Dort hat sich die Zahl der Unfalltoten mehr als verdreifacht. Von drei auf zehn. Ganz im Gegensatz zum Landestrend, wo ein neuer Tiefstwert erwartet wird. „Die Dezember-Zahl ist noch nicht erfasst“, sagt Günter Loos vom Innenministerium, „aber bis November gab es knapp vier Prozent weniger Opfer.“ 434 waren es bis dahin. 480 Tote waren im Jahr 2011 zu beklagen.

Beim Blick darauf, wie die tödlichen Unfälle im Kreis Göppingen hätten verhindert werden können, kann der Polizeisprecher Rudi Bauer keine Antwort geben: „Das sind Unfälle, denen kann man polizeilich nicht vorbeugen.“ Der Unfall auf der B 10 am 16. Dezember etwa. Morgens um vier stand plötzlich ein 30-jähriger Fußgänger auf der Bundesstraße bei Göppingen auf der Fahrbahn. Völlig unvermittelt, dunkel gekleidet. Nach ersten Feststellungen hatte eine 30-jährige BMW-Fahrerin keine Chance – und erfasste den Mann. Warum er dort unterwegs war, konnte zunächst nicht geklärt werden.

Derweil setzt sich die Reihe tödlicher Unfälle fort: In Sachsenheim, Kreis Ludwigsburg, starb am 6. Januar ein 68-jähriger Mann. Er hatte sein Moped über die Straße geschoben – und hatte die rote Ampel der Fußgängerfurt nicht beachtet.