Manche Menschen vereinsamen im Alter – wenn sie sterben bleibt ihr Tod nicht selten unbemerkt. Foto: dpa-Zentralbild

Manchmal dauert es 15 Jahre, bis auffällt, dass ein Mensch fehlt. Hinter traurigen Geschichten aus Großstädten steckt nicht immer kriminelle Energie.

Berlin - Zehn Jahre lang lag ein Berliner Rentner in seiner Tiefkühltruhe - und niemand hat ihn vermisst. Vor 16 Jahren verschwand eine betagte Frau von der Bildfläche, und kein Nachbar fragte nach. Nur die Renten der beiden hat jemand abgezweigt. Es sind zwei krasse Geschichten aus der Hauptstadt, die im Januar nach und nach bekannt werden. Sie werfen die Frage auf, ob ältere Menschen zunehmend vereinsamen - und die Gesellschaft sich nicht genügend kümmert. Die Meinungen dazu gehen weit auseinander.

Die Geschichten des unbemerkten Verschwindens gleichen sich. Manchmal finden erst Einbrecher nach Jahren mumifizierte Leichen. Für Elke Schilling sind das keine Schauermärchen. Sie ist Mitglied der SeniorInnenvertretung Berlin-Mitte - und sieht Vereinsamung als Problem, gerade bei Hochbetagten in Großstädten. „Die einzige Stimme in der Wohnung ist der Fernseher“, sagt sie. Schilling will sich damit nicht abfinden. Nach britischem Vorbild baut sie gerade die kostenfreie Soforthilfe-Hotline „Silbernetz“ auf. Von Ostern an können dort ältere Menschen anrufen, die einfach mal reden möchten. Auf Wunsch gibt es dann auch ehrenamtliche „Freunde“, die einmal in der Woche anrufen. Es ist ein Probelauf, zunächst nur in Berlin.

„Menschen mit sozialen Kontakten sind länger gesund“

Nach Erhebungen des Deutschen Zentrums für Altersfragen (DZA) gibt es dagegen keine Hinweise auf eine zunehmende Vereinsamung von Senioren seit Mitte der 90er Jahre. Eine mögliche Erklärung der Forscher: Die Zahl der sozialen Kontakte verringert sich zwar mit dem Alter, bestehende Beziehungen verbessern sich aber. 40- bis 85-Jährige fühlten sich nach Befragungen selten einsam oder gesellschaftlich ausgeschlossen.

Doch die Forscher haben auch herausgefunden, dass Einsamkeit häufiger Arme und gering Gebildete trifft. Die Gruppe der Menschen über 85 hatten sie allerdings nicht im Blick. Dabei wächst diese rasant. Nach Zahlen des Statistischen Bundesamts gab es in Deutschland 1990 rund 854 000 Senioren zwischen 85 und 90 Jahren - 2015 waren es bereits 1,5 Millionen. Die Gruppe der Hochbetagten über 90 stieg in dieser Zeit von rund 275 000 auf 718 000.

Dass Menschen völlig vereinsamen, wird es nach Ansicht des Bundesverbandes der Volkssolidarität immer geben. „Aus dem Beruf raus, den Partner verloren, die restliche Familie wegen der Arbeit weit weg - das ist oft keine einfache Situation für Ältere“, sagt Sprecher Tilo Gräser. Der Wohlfahrtsverband macht Angebote, die beim gemeinsamen Kaffeetrinken beginnen. Es liegt aber immer auch an den Senioren selbst. Es gebe Hochbetagte, die sich noch mit 90 in einem Ehrenamt engagierten, ergänzt Constanze Frei, Landessprecherin in Berlin. „Menschen mit sozialen Kontakten sind auch länger gesund.“

Bei der Deutschen Rentenversicherung sieht Sprecher Dirk von der Heide den einsamen Tod als Ausnahme. „Es ist sehr selten, dass Menschen jahrelang tot in ihrer Wohnung liegen und wir in dieser Zeit Rente zahlen“, sagt er. Die Behörde erfahre in der Regel von Standesämtern oder Meldebehörden von Todesfällen. Wenn die jährlichen Rentenanpassungsmitteilungen als unzustellbar zurückkämen, hake die Versicherung nach. „Es gehört erhebliche kriminelle Energie dazu, eine Leiche verschwinden zu lassen, um an deren Rente zu gelangen - auch, wenn der Mensch eines natürlichen Todes gestorben ist.“

Peter Walschburger, Psychologe an der Freien Universität Berlin, hält Einsamkeit und Anonymität für ein Großstadtphänomen - und auch für ein Ergebnis der wachsenden Single-Gesellschaft. „Die soziale Kontrolle in kleinen Gemeinden geht in größeren Städten weitgehend verloren“, sagt er. Bei der Vielzahl der Lebensentwürfe gebe es ein toleranteres soziales Umfeld. „Aber diese Toleranz geht eben auch mit Gleichgültigkeit einher. Mehr Freiheit heißt dann auch mehr Anonymität und Einsamkeit.“

Vergessen und verwest - ungewöhnliche Todesfälle

Manchmal dauert es viele Jahre, bis auffällt, dass ein Mensch in Deutschland einfach verschwunden ist. Grund kann grenzenlose Einsamkeit sein. Manchmal stecken auch Betrüger dahinter, die Renten oder Sozialleistungen kassieren wollen. Ausgewählte Beispiele der vergangenen Jahre:

Mai 2015: Mehr als zwei Jahre lang hat ein 50 Jahre alter Mann im Münsterland mit seiner toten Mutter in einer Wohnung gelebt. Die Frau war eines natürlichen Todes gestorben. Ihre Leiche wurde erst durch Hinweise des Sozialamts entdeckt. Bei einer Prüfung waren Mitarbeiter misstrauisch geworden. Der Sohn kam in eine psychiatrische Einrichtung.

März 2013: In Düsseldorf ist eine Frau jahrelang in ihrer Wohnung verwest. Erst als ein Polizist sie in einem Betrugsverfahren als Zeugin vernehmen will, fällt auf, dass sie niemand mehr gesehen hat. Eine Fernsehzeitschrift aus dem Jahr 2009 gibt einen Hinweis auf den Todestag, danach wäre die Frau 57 Jahre alt geworden. Ein Gewaltverbrechen schließen die Ermittler nach der Obduktion aus. Nachbarn hatten die Unterschrift der Toten gefälscht und Sozialleistungen in Höhe von rund 20 000 Euro abgezweigt.

Mai 2012: Fünf Jahre nach ihrem Tod findet ein Einbrecher in Hagen (Nordrhein-Westfalen) die mumifizierte Leiche einer Rentnerin. Letzte Schriftstücke von ihr stammten aus dem Frühjahr 2007. Die Frau starb mit 66 Jahren, Hinweise auf ein Verbrechen fand die Polizei nicht. Die Miete wurde regelmäßig vom Konto der Frau abgebucht, vermisst hat sie niemand.

Januar 2010: Ein 61 Jahre alter Mann lebte mehrere Jahre lang mit der verwesten Leiche seiner Mutter in einer Wohnung im Saarland. Das fiel allerdings erst nach seinem eigenen Tod auf. Nachbarn hatten sich über Gestank beschwert - und die Polizei durchsuchte die Räume. Ein zweiter Sohn hatte davon nichts mitbekommen. Er pflegte keinen Kontakt zu seiner Familie.

Januar 2005: Eine Frau aus Emmerich (Nordrhein-Westfalen) versteckte ihren toten Vater drei Jahre lang in einer Biotonne im Garten. Die 55-Jährige wollte die Rente ihres Vaters und Leistungen aus der Pflegekasse kassieren. Die Obduktion ergab keinen Hinweis auf ein Gewaltverbrechen. Die Tochter meldete ihren Vater erst als vermisst, als Nachbarn immer wieder nach dem betagten Mann fragten.