Entscheidet das schottische Parlament sich am Mittwoch für ein weiteres Unabhängigkeits-Referendum? Foto: EPA

Die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon will ihr Land in der EU halten und fordert ein neues Referendum über die Abspaltung von Großbritannien. London reagiert gereizt und dünnhäutig. Die Fronten sind verhärtet.

Stuttgart - Ein eisiger Märzwind fegt durch die Straßen von Edinburgh. Sturm, Schauer, sogar Schneegestöber sind angesagt. Im kleinen Co-op-Laden auf der Frederick Street legen sie den jähen Kälteeinbruch der britischen Premierministerin Theresa May zulasten. „Wen wundert’s?“, spottet einer der jungen Leute, die hinter der Kasse stehen. „Jetzt, wo’s rausgeht aus der EU, spielt selbst das Wetter verrückt.“ Die Zeitungen erläutern, was mit dem Verweis auf die turbulente Großwetterlage an diesem Morgen gemeint ist. „Nächsten Mittwoch wird die britische EU-Mitgliedschaft aufgekündigt“, melden die Schlagzeilen. Der zum kompromisslosen Brexit trommelnde Londoner „Daily Telegraph“ treibt zu zusätzlicher Eile: „Wir müssen rasch raus aus der EU – sie fällt schneller auseinander als bisher gedacht.“ Dagegen kommt es den schottischen Blättern vor, und mit ihnen auch den Co-op-Verkäufern im Frederick-Street-Laden, dass nun auseinanderfallen könnte, sei etwas ganz anderes – nämlich das Vereinigte Königreich.

Den ersten Schritt zu einem solchen „alternativen“ Austritt macht jedenfalls an diesem denkwürdigen Tag die schottische Regierung. Im Parlament von Holyrood, drunten am wolkenverhangenen Ende der Royal Mile Edinburghs, hat Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon, die Vorsitzende der Schottischen Nationalpartei (SNP), ihren Antrag auf ein zweites Unabhängigkeitsreferendum eingebracht. Das erste Referendum, im September 2014, war ja gescheitert. Aber im Zeichen der radikalen Abkoppelung Großbritanniens von Europa hält Sturgeon eine neue Volksabstimmung für unerlässlich. Schottland, das beim britischen EU-Referendum im vorigen Sommer mit 62 zu 38 Prozent für den Verbleib in der Union stimmte, müsse die Wahl haben zwischen dem verhängnisvollen Marsch ins europäische Abseits hinter England her oder „einem anderen, eigenen, besseren Weg in die Zukunft“, erklärte sie. Nach zweitägiger Debatte soll Schottlands Parlament an diesem Mittwoch nun einen entsprechenden Beschluss fassen.

Nur jeder dritte Wähler hält ein zweites Referendum für erforderlich

Die schottischen Grünen sind, als Alliierte der SNP in Sachen Unabhängigkeit, mit dabei. Für die schottische Labour Party und Schottlands Konservative ist diese Initiative Sturgeons dagegen purer Opportunismus. Die schottische Tory-Chefin Ruth Davidson wirft Sturgeon vor, den Brexit nur als Ausrede für ihr Verlangen nach einem weiteren Unabhängigkeitsreferendum zu benutzen. Sturgeon wolle das Vereinigte Königreich „auf Teufel komm raus zerstören“, warnt Davidson. Und Kezia Dugdale, die Labour-Vorsitzende in Edinburgh, beharrt darauf, Nicola Sturgeon könne „niemanden zum Narren halten“. Die schottischen Nationalisten stünden von jeher „für Spaltung, Kummer und Gram“ im Lande. Die Mehrheit der Schotten wolle gar kein Referendum mehr.

Das stimmt auch, umfragemäßig gesehen. Nur jeder dritte Wähler hält, so kurz nach dem ersten, ein zweites Unabhängigkeitsreferendum für erforderlich. Andererseits zeigten vor wenigen Jahren auch nur wenige Briten Interesse an einem EU-Referendum. Solche Umfragen haben die Brexiteers von der Tory-Rechten nie gestört. Und die schottische Regierungschefin Sturgeon ist davon überzeugt, dass sich schnell abzeichnen wird, wohin ein harter Brexit ihr Land führt, wenn es sich widerstandslos von Europa abkoppeln lässt. Ein sofortiges Referendum fordert sie dabei gar nicht. Sie will gern 18 Monate oder sogar zwei Jahre warten, bis klar ist, unter welchen Umständen Großbritannien aus der EU ausscheidet.

„Wie Diktatoren“ benähmen sich May und ihre Minister in London, heißt es in Leserbriefen

Aber das behagt der Regierung in London ganz und gar nicht. Ganz ausgeschlossen hat Premierministerin Theresa May zwar nicht, dass es irgendwann noch einmal ein schottisches Unabhängigkeitsreferendum geben könnte. Jetzt jedoch sei nicht die Zeit, an so etwas zu denken, hat sie erklärt. Ihr Schottland-Minister David Mundell weigert sich sogar rundheraus, auch nur „in Diskussionen oder Verhandlungen zu diesem Thema einzusteigen“. Auf keinen Fall könnten die Schotten vor dem EU-Ausstieg mit dem Gedanken an ein Ausscheiden aus der Union spielen.

Eine solche Haltung betrachten schottische Beobachter als eine gefährliche Positionierung Londons. „Nichts stärkt den Unabhängigkeitswillen der Schotten mehr, als wenn man ihnen sagt, dass sie keine Unabhängigkeit haben können“, meint Ian Macwhirter von der schottischen Zeitung „The Herald“. In der Tat haben weder „The Herald“ noch „The Scotsman“, die beiden wichtigsten Zeitungen Schottlands, einen Zweifel daran, dass es zu einem Referendum kommen muss, wenn das schottische Parlament mit Mehrheitsbeschluss eines verlangt. Beide Blätter, die 2014 noch gegen die schottische Unabhängigkeit eintraten, haben Mays „Referendumsblockade“ scharf verurteilt. Sie haben die Art und Weise, in der die Premierministerin Schottland ignorierte, „unhaltbar“, „rücksichtslos“ und „verblendet“ genannt. In einer Flut von Leserbriefen sind viele ähnliche Stimmen laut geworden. „Wie Diktatoren“ benähmen sich May und ihre Minister in London, klagen einige Schreiber.

Der schottische Haushalt steht wesentlich schlechter da als 2014

Andere halten es dagegen für „reine Fantasie“, dass sich Schottland als ein von England getrennter und zugleich aus der EU katapultierter Staat behaupten wird. Mit den gefallenen Ölpreisen und einem Riesendefizit im schottischen Haushalt stehe man wesentlich schlechter da als 2014. Jetzt mit einem neuen Unabhängigkeitsreferendum zu kommen sei „totaler Wahnsinn“. Schottlands Regierungschefin Sturgeon selbst ist sich durchaus bewusst, dass viele Schotten beim Gedanken an eine erneute zweijährige oder noch längere Referendumskampagne unruhig werden. Nur lasse ihr der harte Brexit und die totale Missachtung schottischer Interessen durch die Tory-Regierung in London keine andere Wahl.

In der Tat haben sich die Umstände gegenüber 2014 deutlich verändert. Damals waren die Befürworter staatlicher Souveränität noch diejenigen gewesen, die ihr Land in eine ungewisse Zukunft führen wollten. Diesmal, nach dem Brexit-Beschluss Großbritanniens, nimmt sich die Sache anders aus. „Indyref2“, wie man das geplante neue Referendum überall in Schottland bereits nennt, wird sich nach den Worten der prominenten Unabhängigkeitsverfechterin Lesley Riddoch „abspielen vor dem Hintergrund der sich lösenden Bande Britanniens zu Europa“. Sein Ausgang sei noch viel weniger vorauszusagen, als es der von „Indyref1“ war: Und diesmal schaue man in der EU sehr viel freundlicher nach Schottland als seinerzeit.

Es gibt kaum noch Hoffnung für ein Wiedererstarken der Labour Party in Großbritannien

Auch hat die SNP in Nicola Sturgeon eine populärere Führungsfigur als damals. Ihr Vorgänger Alex Salmond war vielen im Lande zu scharfzüngig, zu aggressiv. Vor allem aber gibt es mittlerweile kaum noch Hoffnung für ein Wiedererstarken der Labour Party, drunten in Westminster: 2014 hofften viele Schotten noch auf einen Regierungswechsel in London, auf einen Labour-Erfolg. Mittlerweile ist mit Labour aber nicht mehr viel los. Die Partei ist gelähmt und zutiefst zerstritten. Die Aussicht jedoch, auf ein volles Jahrzehnt hinaus „selbstherrlichen“ Tory-Regierungen wie der von Theresa May „ausgeliefert“ zu sein, könnte den überwiegend linksliberal orientierten Separatisten bei „Indyref2“ viel Unterstützung zuführen.

Wer sich in Edinburgh umhört, stößt jedoch auf Zweifel am Erfolg eines zweiten Unabhängigkeitsreferendums. Am Ende werde der Schritt vielen Schotten doch zu gewagt sein, meint ein älteres Paar aus Aberdeen beim Plausch im Foyer des schottischen Parlaments. Wenn ein solches Referendum erst in drei oder vier Jahren bewilligt werde, hätten sich viele vielleicht an ein Leben außerhalb der EU gewöhnt. Oder der Brexit könnte sich, anders als Nicola Sturgeon glaubt, als Erfolg erweisen. „Was dann?“ Davon unbeeindruckt haben der SNP-Generalsekretär Peter Murrell und Elaine Smith, die Präsidentin des Dachverbands für Schottische Unabhängigkeit, damit begonnen, die „Truppen“ von 2014 neu zu mobilisieren und die damaligen Geldgeber für erneute Spenden zu gewinnen.

Auf der Suche nach einer Patronin ist Harry-Potter-Autorin Rowling im Gespräch

Die Gegenseite sucht derweil ihrerseits nach einer Patronin. Ein Vorschlag, der jetzt in Edinburgh die Runde macht, ist die Frage, ob sich die Harry-Potter-Autorin J. K. Rowling für eine solche Rolle gewinnen ließe. Rowling ist weithin beliebt in Schottland. Und ein bisschen Harry-Potter-Magie könnte das Lager der „Unionisten“ wahrscheinlich brauchen in den Stürmen der nächsten Jahre.