Eine ungewöhnliche Aktion soll gegen die Folgen des Chemieunfalls helfen: Entlang von 115 Kilometern wird der Stand des Neckars künstlich hoch gehalten, um Wasserreserven zu bilden. Am Wochenende sollen sie abgelassen werden – um das Ammonium zu verdünnen, das dann aus der Jagst im Neckar erwartet wird. Klappt die Aktion?

Stuttgart - Jörg Huber bietet den Wassermassen des Neckars Einhalt. Oberhalb von Bad Wimpfen – wo die Jagst in den Neckar fließt – stauen der Leiter des Wasser- und Schifffahrtsamts Heidelberg und seine Kollegen den Fluss. 20 Zentimeter höher als gewöhnlich steht das Wasser derzeit zwischen Gundelsheim und Deizisau. Eine gewaltige Wasserreserve wird so gebildet. Dafür mussten an 18 Staustufen die Wasserkraftwerke gedrosselt werden. Den gesamten Spielraum, den Huber beim Wasserstand hat, nutzt er aus. Das Unterfangen sei „komplex“, sagt Huber – und Neuland für Baden-Württemberg: „Mir ist nicht bekannt, dass es so eine Aktion auf dem Neckar schon einmal gegeben hätte.“

Erholung wird Jahre dauern

Rund 100 Tonnen Düngemittel waren in der Mühle in Kirchberg (Landkreis Schwäbisch Hall) gelagert, als sie vor gut einer Woche in Flammen aufging. Beim Löschen gelangte mit Ammoniumnitrat verseuchtes Wasser in den Fluss. Der giftige Stoff ist in Kunstdünger enthalten. Die Folgen: Tonnenweise tote Fische und ein über weite Strecken komplett zerstörtes Öko-System, dessen Erholung Jahre dauern wird.

Damit im Neckar nicht dasselbe droht, wird der Fluss nun gestaut. Für Jörg Huber ist das sozusagen die Ruhe vor dem Sturm – denn wenn die aufgestauten Wassermassen abgelassen werden, geht die Aufregung erst richtig los.Voraussichtlich in der Nacht von Freitag auf Samstag heißt es auf dem Neckar „Wasser Marsch!“. Dann wird die Ammonium-Fahne aus der Jagst nach den derzeitigen Berechnungen den Neckar erreichen. Mit der Wasserreserve aus dem gestauten Fluss soll das Gift verdünnt werden. „Wir planen, dass wir über acht bis neun Stunden einen erhöhten Abfluss aufrecht erhalten können“, sagt Huber. Aber ob der Verdünnungseffekt so hoch wird wie gewünscht, stehe in den Sternen, sagt Huber. Der Spielraum für die Aktion sei klein: Dort wo das aufgestaute Wasser abfließt, darf der Wasserstand nicht so stark sinken, dass Schiffe auflaufen.

Berufsschiffe dürfen weniger laden als sonst

In diesem Bereich sind für Berufsschiffe dann 20 Zentimeter weniger Tiefgang erlaubt als gewöhnlich: Normalerweise liegt die Grenze auf dem Neckar bei 2,80 Metern. Wer zu viel geladen habe, müsse warten, sagt Huber. Auch die Schleusen würden ihre Taktung dann herunterfahren, um nicht noch mehr Wasser wegzuziehen. Die Berufsschiffer sind vorgewarnt – und müssen laut Huber mit längeren Wartezeiten als gewöhnlich an den Schleusen rechnen.

Mit der Aktion will das Land den Neckar gegen die Giftwolke wappnen. Wird das die Fische schützen können?

Der Landesvorsitzende des Naturschutzbundes (Nabu) André Baumann hält die Aktion für sinnvoll – und weist darauf hin, dass der Neckar schon an sich die Giftwolke erheblich verdünnen wird. Die Jagst trägt nach Angaben des Landratsamts Heilbronn sechs Kubikmeter Wasser pro Sekunde. Im Neckar sind es fünf Mal soviel.

Landratsamt hofft: Geringe Folgen für den Neckar

Wie stark wird das Gift den Neckar treffen? In dieser Frage will sich der Nabu-Landesvorsitzende zu keiner Prognose hinreißen lassen. Der Sprecher des Heilbronner Landratsamts Manfred Körner wählt beschwichtigende Worte. Wenn der Abbau des Ammoniumnitrats so weiter ginge wie bisher, werde der Neckar allenfalls noch direkt an der Jagstmündung belastet. „Und immerhin haben wir bis dahin noch 40 Kilometer vor uns.“ Denn am späten Dienstagnachmittag passierte die Giftfahne allmählich Jagsthausen im Landkreis Heilbronn. Die Belastung sei bereits auf ein Fünftel des ursprünglichen Werts zurückgegangen, sagt der Sprecher des Heilbronner Landratsamts.

Dass der Wert gesunken ist, sei auch den Einsatzkräften vor Ort zu verdanken. Mit 153 Menschen pumpt die Feuerwehr Wasser aus dem Fluss und anschließend wieder hinein – das soll den Sauerstoffgehalt im Fluss erhöhen. Dadurch entstehen Bakterien und Algen, die den Schadstoff zersetzen. Im Lagezentrum der Feuerwehr in Möckmühl herrscht Ausnahmezustand: Auf einer großen Landkarte wird der Verlauf der Giftfahne durch die Region markiert, beim Catering-Dienst werden eilig zusätzliche Portionen für das Abendessen bestellt. Die Feuerwehr rechnet mit einem 30-Stunden-Einsatz. So lange dauert es in etwa, bis die Giftfahne komplett vorbeigezogen ist.

Fische werden in Seitenarme der Jagst gebracht

Auch die Fischereivereine sind unterwegs. Herbert Mägerle aus Widdern bei Jagstfeld zum Beispiel schuftete am Wochenende bis in die Nacht, um die Kessach – einen Zufluss der Jagst – gegen das Gift abzudichten. „Anschließend haben wir 200 Fische mit Elektronetzen aus der Jagst geholt und in den Seitenarm gebracht“, sagt Mägerle.

Ob solche Aktionen der Katastrophe merklich etwas entgegensetzen können? Er und seine Fischerkollegen sind skeptisch. Schließlich sterbe mit den Kleinlebewesen auch das Futter der nächsten Fischgeneration. Und an den Fischen hängen wiederum andere Lebewesen: „Der Eisvogel wird in der nächsten Zeit einen leeren Teller haben“, sagt Uwe Thoma, einer der drei Feuerwehr-Einsatzleiter in Jagstfeld.

Bauern dürfen nicht mit Jagst-Wasser bewässern

Während das Gift durch den Landkreis Heilbronn fließt, leiden nicht nur die Fische im Wasser – sondern auch die Bauern. Das Landratsamt Heilbronn hat vorsorglich ein Verbot verhängt: Kein Baden, kein Fischen – und keine Wasserentnahme. Manche Landwirte sind aber auf das Jagstwasser zum Berregnen angewiesen. Immerhin: Für sie habe es Ausnahmen gegeben, damit sie bis kurz vor Ankunft der Giftwolke bewässern können, sagt der Sprecher des Landratsamts. Landwirte am Neckar dürfen – vorerst – aufatmen: Wegen der erhofften Verdünnung sei ein ähnliches Verbot für den Neckar derzeit nicht geplant.

Naturschutzbund kritisiert Chaos direkt nach der Katastrophe

Die toten Fische macht es nicht wieder lebendig – dennoch sollten aus der Katastrophe Lehren gezogen werden. Der Nabu-Vorsitzende Baumann kritisiert vor allem die offenbar chaotischen Zustände unmittelbar nach dem Brand: „Da entstand der Eindruck, dass die rechte Hand nicht wusste, was die Linke tut. Wertvolle Stunden sind verloren gegangen.“ Deshalb müssten Unfälle an Gewässern besser in den Katastrophenschutz integriert werden. Für Atomkraftwerke etwa seien Katastrophenschutzübungen Routine, sagt Baumann.

Manche reden schon von der Aufarbeitung. Dabei haben Jörg Huber und der Neckar das dicke Ende noch vor sich. Wer heute in Amsterdam sein Schiff belädt, sollte laut Huber schon einmal daran denken: Lieber ein bisschen weniger laden. 2,60 Meter Tiefgang sind am Wochenende auf dem Neckar das höchste der Gefühle.