Olena Pidhorska erklärt Maksym eine Rechenaufgabe. Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Olena Pidhorska unterrichtet seit Mai 2022 in der Körschtalschule ukrainische Kinder in ihrer Muttersprache. Sie war selbst Wochen zuvor mit nur einem Koffer in Stuttgart angekommen. Damals hätte sie nicht gedacht, hier ihre zweite Heimat zu finden.

Olena Pidhorska kommt mal wieder nicht weit auf ihrem Weg durch die Körschtalschule in Stuttgart-Plieningen. Vor einem Klassenzimmer des Grundschultrakts der Gemeinschaftsschule wird die kleine Frau abgefangen. Ein blonder Junge läuft auf sie zu, schlingt seine Kinderarme um sie. Aleksander, den sie liebevoll Sasha nennt, kuschelt den Kopf in ihren weißen Strickpullover. Sie lacht, streicht dem Kind übers Haar. Zuerst scheint er sie gar nicht loslassen zu wollen. Aber schließlich lässt er sie weiter ziehen. Es ist lange her, dass sie sich in den vielen Gängen verlaufen hat. Anfangs fand sie es schwierig, sich zurechtzufinden. Inzwischen bewegt sich die 60-jährige Ukrainerin zielsicher durch die Schule, die ihr so viel bedeutet.

 

„Olena ist unser Engel“, sagt die Schulleiterin Stefanie Lenuzza. Sie wird den ersten Schultag nach den Osterferien vor bald drei Jahren nicht so schnell vergessen. Russland hatte zwei Monate zuvor die Ukraine überfallen. Da wurden sie und ihre Konrektorin Brigitte Beck nach draußen gerufen, weil „da Menschen“ seien. Sie sahen sich rund 30 Personen gegenüber: ukrainische Eltern, die in der Umgebung in Unterkünften und Hotels wohnten und die nach einem Schulplatz für ihre Kinder fragten.

Eine ukrainische Lehrerin meldete sich: Sie wolle helfen, ohne Bezahlung

Den beiden erfahrenen Lehrerinnen kommen immer noch Tränen, wenn sie an diesen „emotionalen Moment“ im April 2022 zurückdenken. Sie hätten sich „sehr hilflos“ gefühlt, so schildert es Brigitte Beck. Im Gegensatz zu heute hatten sie im Schuljahr 2021/2022 noch keine internationale Vorbereitungsklasse. Es mangelte ihnen an Erfahrung im Umgang mit Kindern ohne Deutschkenntnisse. Wie sollten sie das gut bewältigen? Der Freundeskreis für Geflüchtete aus dem Bezirk deckte zunächst einige Deutschstunden in der Schule ab – und meldete sich wenig später mit der guten Nachricht: Eine geflüchtete Mathelehrerin habe sich gemeldet. Sie spreche zwar kein Deutsch, würde aber gerne helfen – freiwillig, ohne Bezahlung. Nicht viel später, am 9. Mai 2022, fing Olena Pidhorska an der Schule an.

„Olena ist unser Engel“, sagt Stefanie Lenuzza, die Rektorin. Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

„Guten Morgen, Frau Pidhorska“, sprechen um kurz nach 10 Uhr an diesem Donnerstagvormittag elf Kinder im Chor – auf Deutsch, dann wechseln sie in ihre Muttersprache. Die Kinder sitzen in der Schulbibliothek der Gemeinschaftsschule, aufgeteilt in drei Tischgruppen, vor sich ihre Mäppchen und ihre Mathe-Arbeitshefte aus der ersten, zweiten und dritten Klasse. Die Bibliothek ist zum kleinen Klassenzimmer für die ukrainischen Schüler geworden. Stundenweise kommen sie her, um mit Olena Pidhorska Mathematik, Deutsch und Sachkunde zu lernen, danach gehen sie wieder zurück in ihre normale Klasse oder in die Vorbereitungsklasse.

Inzwischen ist sie beim Staatlichen Schulamt angestellt

Die Lehrerin geht von Tischgruppe zu Tischgruppe, kontrolliert Rechnungen, gibt Ratschläge, wenn ein Kind nicht weiterkommt, erklärt die deutsche Aufgabenstellung, übersetzt Textaufgaben, mit denen die Kinder oft Probleme haben. Und als es an einer Tischgruppe mal lebhafter wird und die Erstklässler miteinander lachen, bleibt sie ruhig. Sie setzt sich einfach mit an den Tisch. In ihren Klassen gehörten „ihre“ Kinder zu den Stillen. Sie genössen es, sich im Lernkurs auszutauschen, verstanden zu werden und zu verstehen.

Für die Kinder sei der Unterricht bei Olena Pidhorska „wie ein Brückenschlag“, meint Brigitte Beck. Die Grundschüler würden davon sehr profitieren. Verstünden sie die Aufgaben bei ihrer ukrainischen Lehrerin, kämen sie auch in ihrer Regelklasse besser mit, ist die Erfahrung an der Körschtalschule.

Dort ist das Kollegium froh, dass sie die Ukrainerin halten konnten – und dass Olena Pidhorska für ihre Arbeit nun schon länger auch entlohnt wird. Die ersten Monate hatte die Mathematiklehrerin ohne Bezahlung gearbeitet, von September 2022 an erhielt sie zunächst über das Rückenwind-Programm ein Honorar. Seit diesem Schuljahr ist sie für das herkunftssprachliche Angebot sogar beim Staatlichen Schulamt angestellt. „Wenn es irgendwie geht, geben wir sie nicht mehr her“, sagt Stefanie Lenuzza. Wenn Olena Pidhorska weiterhin so gut Deutsch lerne, könne sie vielleicht auch regulär bei ihnen als Mathelehrerin arbeiten.

Der Name „Stuttgart“ gefiel ihr

Dass sie in Stuttgart einen guten Job haben und sich dabei auch noch so wohl fühlen würde – das hätte sie bei ihrem Aufbruch am 18. März 2022 nicht für möglich gehalten, erzählt die Ukrainerin beim Gespräch im Büro ihrer Schulleiterin. Olena Pidhorska hatte mit ihrer damals 15-jährigen Enkelin in der Region der viertgrößten Stadt der Ukraine, Dnipro, gelebt. Das Industriezentrum spielt auch für die Versorgung der ukrainischen Armee eine wichtige Rolle. Olena Pidhorska war sich sicher, dass Dnipro von Russland angegriffen würde. Aber wohin sollten sie und ihre Enkelin fliehen? „Ich habe auf die Karte geschaut“, erzählt sie über die Tage der Flucht. Der Name „Stuttgart“ habe ihr gefallen – und so war es entschieden.

Oma und Enkelin packten jeweils einen Koffer, vertrauten ihre Wohnung einer Nachbarin an und brachen auf. Im überfüllten Zug ging es nach Lwiw, von dort nach Krakau, weiter über Berlin und Hannover nach Stuttgart. In ihrer Erinnerung sei das „wie ein Film“. Müde kamen sie an – und entdeckten am Bahnhof Freiwillige mit ukrainischer Flagge. Sie hätten es kaum fassen können, „dass uns jemand empfängt, dass dort jemand auf uns wartet“.

„So haben die Kinder ein wenig Heimat in der Schule“

Nun dauert der Krieg schon drei Jahre und die Nachrichtenlage ist düster. Es sei gut, dass die Kinder mit Olena Pidhorska jemanden an der Schule hätten, die genau wisse, wie es ihnen geht, findet Brigitte Beck. „Das hat eine emotionale Bedeutung, so haben sie auch ein bisschen Heimat an der Schule“, meint die für die Grundschule zuständige Konrektorin. Was bringt die Zukunft? Wie lange bleiben sie wohl in Deutschland? Das sei etwas, das die ukrainischen Kinder und ihre Familien bewege. Bei vielen habe der Vater nicht mitkommen dürfen oder Oma und Opa seien noch dort, berichtet auch die Ukrainerin. „Die Kinder haben Angst vor den Bomben, natürlich.“

Der Erstklässler Maksym zum Beispiel fühlt sich durch den Unterricht auf Ukrainisch geborgener an der Schule. Er vermisse die Ukraine, sagt der Siebenjährige. Er vermisse seine Freunde. „Aber wenn sie spricht, höre ich auch meine Freunde, dadurch vergesse ich sie nicht“, sagt er. Maksym ist „entweder 2022 oder 2023“ nach Stuttgart gekommen, mit Vater, Mutter und seinen drei Brüdern. Die Familie lebt inzwischen in einer Wohnung. Andere sind seit ihrer Ankunft in einem Hotel untergebracht – wie Veronika, die vor zwei Jahren nach Stuttgart kam. Sie würde gerne mal wieder Selbstgekochtes von ihrer Mutter essen, sagt die Achtjährige, sie bekämen geliefertes Essen. „Ich vermisse meine Oma und Opa und ich vermisse unser Haus.“ Dort habe sie mehr Platz gehabt. Auch sie ist froh über die Stunden mit Olena Pidhorska. „Sie kann gut erklären und dann verstehe ich es auch in meiner Klasse“, sagt die Zweitklässlerin.

Nun ist nicht nur die Ukraine, sondern auch Deutschland Heimat

Auch Olena Pidhorska kam zuerst in einem Hotel unter, inzwischen hat sie eine Wohnung für sich gefunden. Ihre Enkelin ist wieder in der Ukraine, vor einem Jahr sei sie zurückgekehrt. Sie studiere Grafik-Design in einem Ort an der polnischen Grenze, lebe bei einer Verwandten. Ihre Deutschkenntnisse hätten für ein Studium in Deutschland nicht gereicht.

Die Lehrerin war in den Weihnachtsferien in der Ukraine auf Besuch, auch in Dnipro, wo die Spuren des Krieges deutlich zu sehen waren. Am Busbahnhof fielen ihr die vielen mit Holz vernagelten Fenster auf – die Fensterscheiben seien alle kaputt gewesen. Aber ihre Wohnung sei zum Glück unversehrt.

Als sie sich dort in ihr Bett gelegt habe, habe sie sich gefragt, wo sie eigentlich hingehört. Die Worte der Nachbarin hallten nach: Warum sie nicht bleibe?

Da wurde ihr noch mal klar, dass das für sie gerade nicht infrage kommt. Die Arbeit mit den Kindern sei ihr „sehr wichtig“. Als sie am Ende der Ferien die Haustür hinter sich geschlossen habe, habe sie sich darauf gefreut, „nach Hause“ zu kommen. „Ich habe jetzt zwei Heimatländer – wie Vater und Mutter, ich mag beide gleich“, sagt Olena Pidhorska.