Viele ukrainische Kinder und Jugendliche aus den russisch besetzten Gebieten werden gedrillt, um später für Russland zu kämpfen. Eine junge Frau kann ihren Bruder davor bewahren.
So lange hatte sie gekämpft. Und jetzt sollte alles umsonst gewesen sein? Ksenia muss sich zusammenreißen, um ihre Verzweiflung nicht allzu deutlich zu zeigen. Nicht dem Psychologen und der Sozialarbeiterin in dem Sozialzentrum nahe des russischen Rostows. Vor allem nicht ihrem Bruder. Serhii sitzt da, mitten in einem Übungsraum der Einrichtung. Gerade noch hat der Zehnjährige einen für Ksenia niederschmetternden Satz gesagt: „Ich will nicht mehr zurück in die Ukraine.“ Über ein Jahr hatte die damals 18-Jährige auf dieses Treffen hingearbeitet. Jetzt könnte es schlimmer nicht kommen. „Warum denn nicht, Serhii?“, fragt sie. Dann sagt der Bruder, was ihm im Sommercamp, in der Schule und von den Pflegeeltern eingetrichtert wurde: In der Ukraine seien alle Nazis, böse Menschen. Russland sei das beste Land. Und so weiter.
Die Sozialarbeiterin hört alles mit. Dann gibt sie Ksenia drei Stunden alleine mit dem Bruder. „Die Entscheidung, die er dann trifft, wird bindend sein“, erklärt sie. Also entscheidet sich in drei Stunden, ob Ksenia mit ihrem Bruder in die unbesetzte Ukraine zurückkehren kann.
Ksenia fühlt sich wie in einem Albtraum. „Ich hatte verstanden, dass ich in drei Stunden nicht eine Gehirnwäsche wegwischen kann, die über so viele Monate andauerte“, erklärt Ksenia heute in einem Café im Herzen von Kiew. An jenem Tag im Mai 2023 konnte sie ihren Bruder nur überzeugen, mit zu einem kleinen Urlaub in die Ukraine zu kommen. „In Kiew hat er dann eingesehen, dass er belogen wurde. Jetzt hat er hier in der Stadt eine gute Pflegefamilie gefunden. Ich wohne mit meinem Freund zusammen und studiere TV-Journalismus“, sagt die heute 21-Jährige.
Die Geschichte der Geschwister hat vorerst einen guten Ausgang gefunden. Doch für 19 000 Kinder und Jugendliche (nach Angabe der ukrainischen Behörden), die von Russland entführt, pro-ukrainischen Familien geraubt oder als Waisen nach Russland verschleppt wurden, verläuft die Geschichte bis heute anders. In belegten Fällen wurden Eltern von russischen Besatzungstruppen getötet oder verhaftet. Russland hat ein Register von Familien eingerichtet, die ukrainische Kinder adoptieren können. Der ukrainische Ombudsmann für Kinderrechte, Dmytro Lubinets, befürchtet, dass es hunderttausende Fälle gibt. Die Geschichte von Ksenia und Serhii zählt dazu.
„Ein regelrechtes Umerziehungslager“
Beide stammen aus der ukrainischen Stadt Charkiw. Ihre alleinerziehende Mutter hat zunehmend Probleme, sich um ihre beiden Kinder zu kümmern. Ende 2021 entscheidet das Sozialamt, die beiden in eine Pflegefamilie in der grenznahen Stadt Wowtschansk zu geben. Die Kleinstadt liegt in der Region Charkiw. Am 24. Februar 2022 beginnt die großangelegte Invasion Russlands. Der neue Wohnort von Ksenia und Serhii gerät sofort unter russische Besatzung.
„Als die russischen Truppen einmarschierten, war das ein riesiger Schock“, sagt Ksenia. Sie ist damals kurz vor der Volljährigkeit. Schnell wird ihr klar, dass die „russische Welt“ nicht die ihre ist. „In der Schule gab es absurde Propaganda. Bösartige Lügen. Wer sich gegen das System stellte, war ein Feind“, erklärt die junge Frau. Dann kommt der Sommer. Und Serhii wird in ein Feriencamp geschickt. „Das war kein Urlaubsspaß, sondern ein regelrechtes Umerziehungslager“, berichtet Ksenia.
1,25 Millionen Acht- bis 18-Jährige erhalten militärische Grundausbildung
Ferienlager sind Teil des Systems. Für Teenager gibt es dort bereits militärischen Drill, selbst Kinder werden umfassend indoktriniert. Die Sichtweise des Putin-Regimes wird bereits den Jüngsten im russischen Staat eingebläut: „In der Ukraine herrschen mörderische Nazis, die Ukraine sei ein künstlicher Staat ohne eigene Geschichte, der Westen ist verfault und böse. Als Soldat für das große Russland zu kämpfen eine Ehrensache.“ All das vernahm Serhii zu genüge. Der militärische Drill geht bei den Kindern und Jugendlichen in der Schule weiter und besonders in paramilitärischen Organisationen wie der „Junarmija“, der Jugendarmee. Im Jahr 2016 durch einen Erlass Putins gegründet, erhalten dort nach Angaben der Organisation 1,25 Millionen 8- bis 18-Jährige eine militärische Grundausbildung, Waffentraining und „patriotische Erziehung“.
„Dort landen viele ukrainische Kinder und Jugendliche aus den besetzten Gebieten. Als Volljährige sollen sie dann gegen ihre eigenen Menschen kämpfen. Viele sind schon an der Front, die ersten sind schon gefallen“, sagt Ksenia. Ihr Bruder Serhii sollte dieses Schicksal nicht teilen.
Als die junge Frau vor gut zwei Jahren wieder auf ihren Bruder traf, hatte sie selbst das System Putin kennengelernt. Ihr Bruder war mittlerweile einer Pflegefamilie zugewiesen worden, die in Russland lebt, nahe der Grenze zur Ukraine. Ksenia wurde vor die Wahl gestellt, Friseurin oder Köchin in einer Art Berufsschule nahe Belgorod zu lernen. Als sie 18 Jahre alt wurde, durfte sie nicht mehr bei der Pflegefamilie bleiben. Auch nicht in der Berufsschule und einem Wohnheim, weil sie sich als Volljährige weiterhin weigerte, die russische Staatsbürgerschaft anzunehmen.
Das Vorgehen der russischen Besatzer ist Usus. Wer sich in den besetzten Gebieten dagegen sträubt, die Staatsbürgerschaft zu wechseln, verliert schnell grundlegende Rechte. Schulen, Universitäten, Entrichtungen des Gesundheitssystems wie Krankenhäuser – überall verschlossene Türen für Menschen, die zu ihrer ukrainischen Staatsbürgerschaft stehen. Ukrainerinnen und Ukrainer, die vor Kämpfen und russischer Besatzung Richtung Westen geflohen sind, droht als nächster Schritt der Verlust ihres Eigentums. Putins Diktatur bedeutet eine brutale und umfassende Russifizierung. Laut Dekret des Moskauer Machthabers müssen nun Ukrainerinnen und Ukrainer, die sich weigern, die russische Staatsbürgerschaft anzunehmen, die besetzten Gebiete verlassen. In zerstörten Städten wie Mariupol werden Russen angesiedelt. Der Großteil der ursprünglichen Bevölkerung von Mariupol ist in ukrainisch gehaltene Gebiete oder ins Ausland geflohen.
„Dieser Hass, den die Russen auf die Ukraine haben“
Eine Freundin aus Charkiw half Ksenia damals weiter. Die Freundin hat eine Bekannte, die im russischen Belgorod wohnt. Die junge Ukrainerin kommt dort unter. „Aber es war eine unerträgliche Zeit. Dieser Hass, den die Russen auf die Ukraine haben. Furchtbar. Sie haben doch uns überfallen, und nicht umgekehrt“, sagt die Studentin.
Mittlerweile hatte sie Kontakt mit „Save Ukraine“ aufgenommen. Die Organisation hat das größte Rettungsnetzwerk für Kinder aus den russisch besetzten Gebieten aufgebaut. Es hilft zudem Binnenvertrieben und bei Evakuierungen aus den Kampfgebieten. „Save Ukraine“ gehört zu den Schwergewichten der ukrainischen Hilfsorganisationen, kooperiert mit dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz, Unicef, OSZE und der Europäischen Kommission. Es war wahrscheinlich viel Arbeit im Hintergrund nötig, um die Ausreise von Serhii und Ksenia zu ermöglichen, wie auch von Hunderten anderen Kindern seit Beginn der Vollinvasion.
„Für meinen Bruder wäre es fast zu spät gewesen“
„Für meinen Bruder wäre es fast zu spät gewesen. Mit ihren Lügen hätten sie ihn beinahe gefangen“, sagt Ksenia und denkt an die unzähligen Kinder und Jugendlichen, die Putins Diktatur zu gläubigen Untertanen und Soldaten machen will. Jeder Bericht, den die junge Frau darüber liest und sieht, schmerzt sie aufs Neue. „Raubt Putin der Ukraine seine Kinder und Jugendlichen, nimmt er ein Stück Zukunft meines Landes.“
Der Internationale Strafgerichtshof hat am 17. März 2023 wegen der Verschleppung von Minderjährigen Haftbefehle gegen Wladimir Putin und die russische Kommissarin für Kinderrechte, Marija Lwowa-Belowa, erlassen. Für Ksenia wäre es, so sagt sie, ein Festtag, wenn diese Haftbefehle endlich ausgeführt würden.