Auf dem Maidan: Eine eindrucksvolle Foto-Galerie am Fuß der 62 Meter hohen Freiheitssäule erinnert an die blutigen Revolutionswochen zwischen November 2013 und Februar 2014. Foto: StN

Die Ukraine kämpft an vielen Fronten gegen Russland: gegen ausbleibende Gaslieferungen, gegen gezielte Desinformation, gegen oft militärisch überlegene Separatisten-Truppen.

Die Ukraine kämpft an vielen Fronten gegen Russland: gegen ausbleibende Gaslieferungen, gegen gezielte Desinformation, gegen oft militärisch überlegene Separatisten-Truppen.

Kiew - Der böige Wind reißt die Wäsche von der Leine, zieht sie durch den staubigen Innenhof unter das schwarze Dach einer langsam verfallenden Fabrik mitten in Kiew. Hier wohnen, hausen sie hinter einem stählernen Schiebetor: rund 150 Flüchtlinge aus der Ostukraine, die sich aus Angst vor den mörderischen Kämpfen zwischen den Regierungstruppen und prorussischen Separatisten bis in die ukrainische Hauptstadt durchgeschlagen haben.

Igor Tatska lebt mit seiner Familie seit dem 5. Juni in dem braungrauen Hangar, der von einer protestantischen Freikirche finanziert wird. Keine Fenster, ein paar Glühbirnen, notdürftig mit dünnen Plastikplanen gegen neugierige Blicke abgeschirmte Hochbetten. Nummern statt Namen. Privatsphäre? Fehlanzeige. Die beiden Enkel des 46-Jährigen freuen sich draußen über gespendetes Spielzeug. Dreiräder, Puppenwagen. Ein Mann rührt mit einer Holzkelle auf offenem Feuer in einem großen Kochtopf. Igor kümmert sich um alles. „5000 Leute haben hier in den letzten vier Monaten eine erste Bleibe gefunden“, sagt er. Und es kommen immer noch neue. Verzweifelt, voller Angst, ohne Hab und Gut. Igor weiß, wie sie sich fühlen. Er kommt aus Alchevsk in der umkämpften Region Lugansk.

Im Gemeinschaftszelt stapeln sich in der Ecke Kleiderspenden. In ausrangierten Kühlschränken hat jede Familie ein Fach für Lebensmittel. In den Regalen markieren sie Milch, Brot und Gemüse mit darübergelegten Handtüchern. Auf drei Gasöfen kocht Wasser für den Tee, der die Menschen im zugigen Zelt aufwärmt. „Nachts wird es schon sehr kalt“, sagt Iryna. Sie macht sich Sorgen um ihre drei Kinder. Wie es weitergeht? Irynas Mann Juri zuckt mit den Schultern. „Wir sind herumgeirrt, von Donezk nach Odessa. Keine Ahnung, wo wir landen.“

Selbst einer wie Witali Klitschko wirkt ratlos

Rund 70 000 Flüchtlinge sollen in Kiew untergekommen sein. Vielleicht sind es auch doppelt so viele. Wer weiß? Allein die von der EU unterstützte Hilfsorganisation Vostol SOS hat im letzten Vierteljahr über 11 000 bei ihren ersten Schritten in Kiew beraten. Selbst einer wie Witali Klitschko wirkt ratlos. Seit Ende Mai ist der frühere Box-Weltmeister Bürgermeister der Drei-Millionen-Metropole. Nach der Euromaidan-Revolution hatte der 43-Jährige im ersten Wahlgang 57,4 Prozent der Stimmen errungen. Jetzt sitzt er im fünften Stock des Rathauses an einem weißen Schleiflacktisch, Stuck an der Decke, drei Kronleuchter, vor den Fenstern die Stadtfahne auf Kiews Klassizismus-Prachtstraße, dem Kreschatik.

Blauer Anzug, dezente Krawatte. Klitschko spricht Deutsch. Nein, sagt er, der Eindruck des Gediegenen täusche. Der Bürgermeistersessel sei „eher ein elektrischer Stuhl“. Die Probleme sind riesig. „Die Ukraine hat in den letzten 20 Jahren keine Fortschritte gemacht. Die Korruption ist unser innerer Feind. Die Schattenwirtschaft blüht. Ausländische Investoren machen um uns einen Bogen.“ Der Krieg mit Russland mache alles noch schlimmer. „Die Ukraine hat keine Armee“, sagt der Ex-Offizier, „die Ausrüstung ist alt, es fehlt an Munition.“ Im Außenministerium wird man hinter vorgehaltener Hand deutlicher. „Wir haben Enttäuschungen erlebt“, sagt ein hochrangiger Regierungsberater, „keiner unserer Partner ist bereit zu helfen.“ Man brauche Defensiv-Waffen, Nachtsichtgeräte, Schulungen, bessere Ausrüstung. „Kann man einem Land, das sich als Opfer fühlt, sagen, dass man es nicht will?“ Durchaus ernst fügt er hinzu: „Was macht Deutschland, wenn Putin Dresden zurückhaben will? Schließlich war er dort als KGB-Agent mal stationiert.“ Oleg Lyaschko von der rechten Radikalen Partei, die sich bei der Parlamentswahl am 26. Oktober gute Siegchancen ausrechnet, schlägt mit schelmischem Blick in dieselbe Kerbe: „Russland hat Hunger auf mehr. Wir kämpfen hier doch auch für Europa. Für euch.“

Auch an anderer Front droht der Kampf verloren zu gehen. „Russland führt erfolgreich einen Informationskrieg“, sagt Klitschko. Deshalb sei im Westen die Rede von Nationalisten, Neonazis und Faschisten, die in Kiew die Fäden zögen. „Putin weiß: Die Russen-Propaganda funktioniert.“ Informationskrieg: Das Wort taucht in erhitzten Gesprächen immer wieder auf. „Wir setzen auf Transparenz, das ist unsere wichtigste Waffe“, behauptet Klitschko. „Wir sagen immer die Wahrheit“, sagt Premierminister Arsenij Jazenjuk, „genau das ist unser Problem.“ Was aber ist in der Ukraine „die Wahrheit“?

Klitschko: „Wir sind für Putin ein bedrohliches Beispiel“

 

Sergej Lawrow jedenfalls sieht die Lage anders. „EU und Nato halten sich für Hüter der Demokratie – und belügen sich doch nur selbst“, findet der russische Außenminister vor der UN-Vollversammlung harte Worte. „Die Ukraine ist Opfer der arroganten Politik der USA und der EU geworden.“ Weil die versuchten, die Kontrolle über ein größeres geopolitisches Areal zu bekommen. „Sie verletzen dabei die UN-Charta und das Übereinkommen von Helsinki.“ Für Klitschko ist klar: Die ukrainische Euro-Revolution macht Moskau Angst. Angst vor Reformrufen auch vor dem Kreml. „Wir sind für Putin ein bedrohliches Beispiel.“

Auf dem Maidan ist es ruhig geworden. Dort, wo zwischen November 2013 und Februar 2014 Hunderttausende protestiert haben, nachdem Staatspräsident Viktor Janukowitsch das Assoziierungsabkommen mit der EU auf russischen Druck auf Eis gelegt hatte. Wo bei Kämpfen mit brutalen Sicherheitskräften am 18. Februar über 80 Menschen starben. Wo man drei Tage später die überstürzte Flucht des Präsidenten nach Russland gefeiert hat. An einigen Stellen wird lieblos der Toten gedacht. Auf einem Rasenstück sind drei Bauhelme von gefallenen Demonstranten zusammengelegt, Männer zwischen 20 und 70. Eine Foto-Galerie mit dramatischen Schnappschüssen erinnert am Fuß der schneeweißen, 62 Meter hohen Freiheitssäule an jene Tage.

Blau-gelb, wohin das Auge schaut. Brückengeländer, Bordsteine, Blumenkübel, Bauzäune, Laternenmasten: Kiew schmückt sich trotzig-stolz mit den Nationalfarben. „Hier rollt eine riesige Patriotismus-Welle“, freut sich Klitschko. Selbst auf Klopapierrollen, von denen Putin grimmig dreinblickt. In der Stadt flanieren nicht mehr ganz so junge Männer in den schlecht sitzenden Camouflage-Uniformen der Freiwilligen-Bataillone. Aber macht Patriotismus auch satt? Der Bürgermeister versteht die Frage nicht.

Was passiert, wenn im Winter das Gas knapp wird und Rußland nicht liefert?

Doch genau darum geht es Tetiana. Die 37-Jährige fragt, was passiert, wenn im Winter das Gas knapp wird, weil Russland nicht liefert. Was von den hoffnungsvollen Worten von EU-Energiekommissar Günther Oettinger zu halten sei, wonach die Ukraine und Russland mit Brüsseler Unterstützung auf gutem Weg seien, einen Kompromiss für weitere Gaslieferungen zu finden. Was es zu bedeuten hat, dass das EU-Mitglied Ungarn der Ukraine kein Gas mehr verkaufen will. Klitschkos Antwort kommt zögerlich. Ja, die Reserven reichten nicht für den ganzen Winter, sagt er. Ob die Wohnungen beheizt werden könnten? „Wir hoffen, dass der Winter warm wird“, sagt der Bürgermeister und lächelt verlegen. Was aber, wenn nicht? „Gas ist ein neuer Waffentyp“, faucht Regierungschef Jazenjuk – die Fahnen der Ukraine und der EU demonstrativ im Rücken. Dem 40-Jährigen merkt man im Gespräch die Anspannung an. „Eine Revolution, ein Krieg und zwei Wahlen – alles in sechs Monaten. Das ist nicht so einfach“, sagt er und ringt sich ein Lächeln ab.

Bis 2020 werde eine reformierte Ukraine so weit sein, um EU-Aufnahmeverhandlungen führen zu können, hat Präsident Petro Poroschenko verkündet. Der Schokoladen-Oligarch versteht es eben, reichlich Süßes zu verkaufen. Dabei ist nicht nur in EU-Kreisen zu hören, dass es so schnell nicht gehen wird. Wenn überhaupt. „Das ist völlig unrealistisch. Allein der Umbau des Rechtssystems braucht viel, viel Zeit“, so sei die Realität. Die EU ist in Kiew stark vertreten. „Wir unterstützen die Regierung“, heißt die Parole. Helfen, nicht handeln – auf diese Feststellung legen alle EU-Berater größten Wert.

Viel wird davon abhängen, wie die Wahl am 26. Oktober ausgeht. Jazenjuk ist optimistisch: „Ein proeuropäischer Präsident wird einen proeuropäischen Premier bekommen.“ Ob das Entspannung bringt, ist fraglich. Eine Woche später wollen die Separatisten in der „Volksrepublik Lugansk“ einen Republikchef und einen „Volksrat“ wählen lassen.

„Das Parteiensystem in der Ukraine ist erst am zweiten Tag der Schöpfung“, hat Oettinger in der letzten Woche in Kiew sorgenvoll gescherzt. Klitschko lässt das kalt. Für ihn steht fest: „Wir sind Europäer, und auf diesem Weg kann uns niemand stoppen.“