Zwei Ukrainerinnen bangen um das Leben ihrer Familien, wollen aber nicht tatenlos bleiben. Sie gründen den Hilfsverein Wolja gemeinsam mit Stuttgartern und suchen Unterstützung.
Stuttgart - Es wäre der erste Frühlingstag gewesen. Normalerweise. Aber in der neuen Zeitrechnung von Julia Melnyk (25) ist es der nächste Tag des Krieges. Die Ukrainerin lebt seit drei Jahren in Stuttgart, arbeitet als Krankenschwester im Marienhospital, ist aber mit ihren Gedanken immer bei ihrer Familie in Kherson im Osten der Ukraine. Dort schlagen die Raketen ein. Dort werden Passanten, auch Mütter mit ihren Kinderwagen, beschossen, dort herrscht blanke Not und Angst. „In diesen Minuten werden die Orte meiner Kindheit, meine Landsleute, meine Heimat zerstört“, schreibt sie auf ihrem Instagram-Account, der auch einen Bombeneinschlag in einem Plattenbau zeigt. „Es ist nur zwei Häuser weiter von dem Gebäude entfernt, in dem meine Oma wohnt.“ Es sind Posts unsagbarer Verzweiflung, endloser Traurigkeit. Denn nachdem die Russen zunächst zurückgeschlagen wurden, kämen sie noch „wütender und aggressiver zurück“. Jetzt gebe es gar keine Regeln mehr. Keine Genfer Konvention für Menschenrechte. Nichts. Nur noch Terror und Aggression.
Minuten zwischen Hoffen und Bangen
Noch kann sie mit ihrer Familie sprechen. Noch sind die Kanäle offen. Alle halbe Stunde, so haben sie es ausgemacht, melden sich ihre Mutter und ihr Bruder per Smartphone aus dem Keller. Sie wollen Tag und Nacht in Verbindung bleiben. Schlafen könne man bei der Anspannung ohnedies nicht. Doch an diesem Morgen kommt kein Anruf, keine Nachricht. „Das gibt dir das Gefühl, die Welt geht unter“, erzählt sie. Als ihr Smartphone nach einer halben Minute doch vibriert, ploppt die Nachricht auf: „Wir leben!“, schreibt ihr Bruder Ilja (17). Zwar in einer Welt voller Angst und Schrecken, aber immerhin.
Alles hat seit dem 24. Februar, dem Einmarsch der Russen, eine andere Bedeutung bekommen. Früher, so hat ihr ein Freund geschrieben, „sehnte ich mich nach dem neusten iPhone, heute nach einem sicheren Keller“. Apropos Keller. Plötzlich bekommt auch der wochenlange Lockdown in der Hochphase der Pandemie einen anderen Stellenwert: „In der Wohnung hatten wir im Lockdown wenigstens fließendes Wasser.“
Während Julia Melnyk diese Geschichten von Verlust und Wut in einem Café am Marienplatz erzählt, sitzt Vitaliia Kochurova daneben, nippt an ihrem Tee und scheint die Geschehnisse in Kherson mitzuerleben. Ja, es ist, als durchleide sie die Situation ihrer Landsleute. Ihre Familie lebt in Nova Kachovka in der Nordkrim. Dort habe Putin und seine Schergen bereits ein Wasserkraftwerk zerbombt, das vom Nordkrimkanal gespeist wurde. Es war eines der ersten Ziele und eine der ersten Städte unter russischer Kontrolle. „Aber das hat die Okkupanten nicht davon abgehalten, weiter zu schießen und zu bomben“, sagt Vitaliia Kochurova (25), die ebenfalls Krankenschwester ist. „Es wurden bereits mehrere Zivilisten, unter anderem Kinder, getötet und mehrere Wohnhäuser zerstört.“ Wie ihre Freundin Julia, ist sie in ständiger Sorge um ihre Lieben in der Ukraine. Vor allem um ihren 20-jährigen Bruder. Denn Männer zwischen 18 und 60 dürfen das Land nicht mehr verlassen. Und das bedeutet für den Rest der Familie: Dann bleiben wir auch.
An Flucht ist nicht zu denken
An Flucht sei ohnehin nicht zu denken, berichtet Vitaliia Kochurova. „Es ist lebensgefährlich sich auf der Straße aufzuhalten. Bei Fluchtversuchen wurden bereits Autos und Menschen beschossen. Einige kamen ums Leben.“ Offiziell wurden zuletzt 64 Opfer unter den Zivilisten gemeldet. „Aber in Wirklichkeit sind es bereits viel mehr. Niemand läuft unter den Bombenangriffen umher und zählt die Toten“, sagt sie. Die Information über die kritische Situation in Nova Kachovka käme nicht bei den ukrainischen Nachrichtendiensten an. „Die sind total überfordert und können nur einen Bruchteil von dem berichten, was gerade passiert“, sagt sie energisch und wird dann noch eindringlicher: „Denkt also bitte daran, dass diese Zahlen, die auf den ersten Blick nicht so schlimm erscheinen, wenig Aussagekraft haben.“
Vitaliia Kochurova lebt seit knapp sieben Jahren in Deutschland und arbeitet im Klinikum Esslingen als Krankenschwester. Nebenbei baut sie an ihrem Abitur. Jetzt im Frühjahr wären eigentlich die Prüfungen. „Doch derzeit kann ich keine deutschen Dichter analysieren“, sagt sie. Ihre Gedanken kreisen nur um den Krieg und die Frage: Was können wir tun? Wie können wir helfen? Die Antwort lautet „Wolja“. Es steht für Freiheit und ist auch in die ukrainische Flagge eingearbeitet. Und nun ist ein Verein in Gründung mit diesem Namen daraus geworden. „Unser Ziel ist es, so viel wie möglich der zurzeit vorhandenen Informationen zu zentralisieren, damit alle Hilfsbedürftige, Hilfsbereite, bereits Helfende vernetzt und zusammengebracht werde“, sagt Vitaliia Kochurova. Der Verein aus sechs Ukrainern und vier Stuttgartern will eine effiziente, schnelle und gezielte Zusammenarbeit aller Beteiligten ermöglichen. „Für uns ist es wichtig, organisiert zu arbeiten, keine Zeit zu verlieren und einen unnötigen Verlust der wertvollen Ressourcen zu vermeiden.“
Der größte Wunsch der beiden jungen Frauen ist natürlich, dass dieser sinnlose Krieg sofort endet. Vielleicht, so ihre vage Hoffnung, ist dass dieser Wille zu Frieden, sich wie ein Flächenbrand auf der ganzen Welt ausbreitet. Und damit auch in Russland. Schon jetzt beginnt ein Teil der russischen Menschen aufzubegehren, meinen sie. „Und dann wenn es auch die Menschen im nächsten Umfeld von Putin erfasst, kommt er vielleicht zum Nachdenken“, sagt Julia Melnyk.
Aber mit solchen Gedanken wollen sich beide in dieser Zeit nicht zu sehr auseinandersetzen. Viel wichtiger sei es jetzt, gemeinsam anzupacken und zu helfen. Stuttgarter und Ukrainer.
Wer den Verein Wolja unterstützen möchte, kann sich entweder per Facebook (Wolja Stuttgart) oder per Mail (mail@wolja-stuttgart.com) melden.