Fast sieben Millionen Deutsche sind überschuldet. Das ist nicht nur ein Problem von Menschen, die wenig verdienen und keine Aufstiegschancen haben. Betroffen ist vor allem die Mittelschicht – und das hat Gründe.
Stuttgart/Düsseldorf - Das Leben auf Pump hat Folgen: Immer mehr Menschen verlieren die Kontrolle über ihre Ausgaben und geraten in eine Abwärtsspirale.
Die schlimmste Zeit des Lebens Monika F., Anfang 30, hat es sich gut gehen lassen. Sie kaufte sich gern schicke Kleider, bestellte Möbel im Versandhaus, leistete sich ein teures Handy und ein Auto. Vieles davon auf Pump. Den Ratenkredit bekam die junge Frau ohne Schwierigkeiten, schließlich hatte sie einen Job – und damit ein regelmäßiges Einkommen. Plötzlich verlor sie die Arbeit und saß auf einem Schuldenberg: 20 000 Euro verlangten die Gläubiger von ihr. Am Ende musste sie eine eidesstattliche Versicherung abgeben und darin ihr gesamtes Vermögen offenlegen. „Das war die schlimmste Zeit in meinem Leben“, sagt Monika F. Alleine schaffte sie es nicht aus der Misere. Sie holte sich Hilfe und wandte sich an die Schuldnerberatung in Stuttgart.
Monika F. gehört bundesweit zu den 6,91 Millionen Menschen über 18 Jahren, die überschuldet sind – 65 000 mehr als noch vor einem Jahr. Jeder Zehnte in Deutschland steckt in den Miesen und kann seine Rechnungen dauerhaft nicht mehr bezahlen. Zusammengerechnet belaufen sich die Schulden auf 209 Milliarden Euro. Das geht aus der jüngsten Studie der Wirtschaftsauskunftei Creditreform hervor, die im Schuldneratlas darstellt, wie viele Erwachsene zahlungsunfähig sind. Doch ab wann ist man überschuldet? „Wenn die Ausgaben die Einnahmen über einen längeren Zeitraum übersteigen und weder das Einkommen noch das Vermögen ausreichen, die Schulden zu begleichen“, sagt Michael Bretz, Leiter der Wirtschaftsforschung bei der Creditreform.
Die Erosion der Mittelschicht Ein Ergebnis der Untersuchung lässt besonders aufhorchen: 4,38 Millionen der überschuldeten Deutschen – das sind 60 Prozent – gehören zur Mittelschicht. Fast alle neuen Fälle stammen aus dieser Bevölkerungsgruppe – während die Zahl in der gehobenen und der unter Schicht leicht abgenommen hat. „Wir sehen derzeit eine Erosion der Mittelschicht“, sagt Bretz. „Wenn die Überschuldung weiter zunimmt, führt dies dazu, dass sie sich immer weiter auflöst und die Schere zwischen arm und reich größer wird.“
Doch wer zählt zur Mittelschicht? Das lässt sich zum einen am Einkommen festmachen, sagt Rainer Bovelet, redaktioneller Leiter des Schuldneratlases. Bei einem Singlehaushalt sind das netto rund 1400 bis 2600 Euro. Ein Paar ohne Kinder zählt ab einem Nettoeinkommen von 2100 Euro zur Mitte im engeren Sinn, eine Familie mit zwei kleinen Kindern benötigt dazu schon fast 3000 Euro. Zur Mittelschicht zählt demnach also der Facharbeiter mit zwei Kindern ebenso wie der Gymnasiallehrer mit Familie oder die alleinstehende Bürokauffrau. „Derzeit gehören fast die Hälfte der Bürger zur eng abgegrenzten Einkommensmittelschicht“, erklärt Bovelet. „Nimmt man die einkommensschwache und die einkommensstarke Mitte dazu, sind es sogar drei Viertel aller Deutschen.“
Das Einkommen allein reicht nicht In einer sich stets verändernden Gesellschaft sagt das Einkommen allein aber noch nichts über Lebensstil, Wertvorstellungen und Verhalten aus. Menschen mit einem ähnlich hohen Verdienst und ähnlichem Bildungsstand wählen nicht zwangsläufig die gleiche Partei oder haben die gleiche Einstellung zu Geld: Die einen geben es fürs Auto oder Reisen aus, die anderen sorgen für schlechte Zeiten vor. Die Autoren des Schuldneratlases haben sich deshalb entschieden, die Mittelschicht nicht nur über das Einkommen zu definieren, sondern anhand weiterer Merkmale zu bestimmen. Dabei spielen Milieus eine Rolle: Sie spiegeln die unterschiedlichen Lebenswelten der Menschen wieder, die sich in ihrer Auffassung und Lebensweise ähneln. Vereinfacht gesagt: Sie stellen die Gruppen Gleichgesinnter dar (siehe Zusatz: Die Mittelschicht definiert sich nicht nur über das Einkommen). Die Mittelschicht setzt sich demnach aus fünf Gruppen zusammen. Die Spanne reicht vom „traditionellen Milieu“, das ein starkes Sicherheits- und Ordnungsbedürfnis hat, über die „bürgerliche Mitte“, die leistungs- und anpassungsbereit ist, bis hin zu den „Hedonisten“, die spaß- und erlebnisorientiert im Hier und Jetzt leben. In der Abwärtsspirale gefangen Hauptursachen für eine Überschuldung sind Arbeitslosigkeit, Krankheit, Scheidung, Sucht oder Unfälle. Rund ein Fünftel aller Fälle, und damit der größte Teil, ist auf einen Jobverlust zurückzuführen. Langfristig gesehen – über einen Zeitraum von zehn Jahren – zeigt sich aber: Arbeitslosigkeit als Auslöser für den Absturz verliert an Bedeutung. Allerdings: Menschen in der unteren Mittelschicht – etwa Facharbeiter mit geringerem Einkommen, Alleinstehende oder Ältere, die schlecht ausgebildet sind und kaum Chancen haben, sich weiter zu qualifizieren – bleiben gefährdet. „Durch die Globalisierung und Digitalisierung verschwinden ganze Branchen“, sagt Michael Bretz von der Creditreform. Eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) ergab 2016, dass in Deutschland 4,4 Millionen Beschäftigte Gefahr laufen, ihren Arbeitsplatz durch die Digitalisierung zu verlieren – vor allem in der Industrieproduktion. „Das führt dazu, dass die Mittelschicht an den Rändern ausfranst.“
Die Verlockungen der Nullzins-Politik Eine alarmierende Entwicklung, die der Schuldneratlas aufzeigt: Die unwirtschaftliche Haushaltsführung als Grund für die Überschuldung nimmt deutlich zu. Gerade dies sei oft der schleichende Einstieg in eine Überschuldungsspirale, sagt Michael Bretz. Das hat mit den Folgen der Finanzkrise zu tun. Selten war es so billig einen Kredit aufzunehmen und auf Pump zu leben. Um klamme Eurostaaten zu retten und die Wirtschaft anzukurbeln hat die Europäische Zentralbank den Leitzins seit 2008 auf das Rekordtief von Null Prozent gesenkt. Je niedriger der Leitzins, desto günstiger wird es, Schulden zu machen. Ein Beleg ist der Konsumkredit für Privathaushalte: Seit 1991 ist die Summe von 131 Milliarden auf 234 Milliarden Euro gestiegen (Stand Juni 2017). „Die Leute sind im Nachholkonsum und leisten sich dann zu viel“, erklärt Bretz. Weil es umgekehrt aber weniger Zinsen fürs Ersparte gibt, stecken immer mehr Menschen ihr Geld in Immobilien – und treiben so die Preise nach oben, was steigende Mieten nach sich zieht. Eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung zeigt, dass rund 40 Prozent der Haushalte in Deutschlands Großstädten mehr als 30 Prozent ihres Nettoeinkommens für Miete zahlen müssen.
Den Schein verzweifelt wahren Auf den ersten Blick sieht man es den Menschen nicht an, dass ihnen das Geld hinten und vorne nicht reicht. „Es ist oft ein unsichtbares Phänomen“, sagt Rainer Bovelet, Soziologe und redaktioneller Leiter des Schuldneratlases. „Die Mittelschicht versucht verzweifelt ihr Image und ihr Leben so lange wie möglich aufrechtzuerhalten, doch irgendwann müssen sie die Rechnung zahlen.“
Monika F. aus Stuttgart hat sich mit ihren Gläubigern auf eine Teilzahlung geeinigt. 10 000 Euro sind noch offen. „Ich weiß, ich habe noch eine harte Zeit vor mir, aber ich kann wieder leben.“
Die Mittelschicht definiert sich nicht nur über das Einkommen
Milieu-Studien
Welchen Lebensstil haben Menschen, woran orientieren sie sich, welche Partei wählen sie und welchen Hobbys gehen sie nach? Mit diesen Fragen setzen sich nicht nur Marketingexperten auseinander, auch Parteien, Verbände aus Politik und Wirtschaft interessieren sich dafür, um besser auf Bedürfnisse besser reagieren zu können. Das Marktforschungsinstitut Sinus erforscht dies seit mehr als 30 Jahren und hat ein Modell entwickelt, bei der die Gesellschaft in verschiedene,sogenannte Sinus-Milieus gegliedert wird. Ein Maßstab ist das Einkommen, eine Rolle spielen auch die Lebenwelten der Menschen. Dadurch soll die Bandbreite der Gesellschaft präziser erfasst werden. Vereinfacht gesagt stellt ein Milieu eine Gruppe von Menschen dar, die ähnliche Wertvorstellungen und Haltungen haben, einen ähnlichen Lebensstil pflegen und ein ähnliches Einkommen haben.
Die verschiedenen Schichten In Deutschland gibt es zehn Milieus. Bei der Einteilung geht es um die soziale Lage: Gehören die Menschen der Unter-, Mittel- oder Oberschicht an, welche Wertvorstellungen haben sie, sind Traditionen oder Individualisierung wichtig. Welche Einstellung haben sie zu Arbeit, Familie, Freizeit, Konsum?
Die Mittelschicht Sie setzt sich aus fünf Milieus zusammen: Der bürgerlichen Mitte, zu der die mittlere Altersgruppe gehört, die leistungs- und anpassungsbereit ist. Dann gibt es das traditionelle Milieu, mit den ältesten Menschen, die auf Sicherheit und Ordnung setzen. Dritte Gruppe sind Adaptiv-Pragmatischen: Jeder zweite ist verheiratet, die Menschen haben oft mittlere Reife oder Abitur und verfügen über höhere Einkommen. Zur vierten Gruppe, dem Sozialökologischen Milieu, gehört die Altersgruppe der 30- bis 60-Jährigen, die konsumkritisch ist und ein ausgeprägtes soziales Gewissen hat. Zudem gibt es die Hedonisten, die spaß- und erlebnisorientiert im Hier und Jetzt leben und zu denen vor allem Schüler und Studenten zählen.