Nachts im Bundestag ist es fast nie so voll, wie auf diesem Bild. Aber es wird getagt, oft bis tief in die Nacht. Das schlaucht viele Abgeordnete. Foto: dpa/Michael Kappeler

Zwei Abgeordnete brechen im Bundestag zusammen. Nun diskutieren die Parlamentarier offen, was viele schon länger sagen: das Hohe Haus ist überlastet.

Berlin - Als Matthias Hauer beim Sprechen ins Stocken kommt und anfängt, am Rednerpult des Bundestages zu zittern, reagiert seine Kollegin schnell. „Ihm geht’s nicht gut“, sagt Antje Tillmann wie zu sich selbst, springt auf und stützt den Abgeordneten. Einen Tag nach dem Kollaps des Parlamentariers vor laufender Kamera sind die Bilder davon auf der Website des Bundestages gelöscht. Aber der Schreck, der vielen im Plenum in die Glieder gefahren ist, wirkt nach.

Auch wenn es sicher Zufall war, dass wenige Stunden nach Hauer eine weitere Abgeordnete, Simone Barrientos (Linke), während einer Abstimmung ebenfalls zusammenbrach, so hat dieser Sitzungstag doch Folgen. Eine Diskussion, die schon seit längerem leise geführt wird, hat nun den Schutz der Kulisse verlassen: Der Parlamentsbetrieb ächzt vernehmlich – Tagespläne platzen aus allen Nähten, Änderungsanträge werden in letzter Minute präsentiert, der Ton ist bisweilen furchtbar rau. Dass Menschen zusammenbrechen, ist das sichtbarste Zeichen für diese Last.

„Menschenfeindliche Arbeitsbedingungen“

„Menschenfeindlich“, seien die Arbeitsbedingungen, hat die linke Parlamentsnovizin und Netzaktivistin Anke Domscheit-Berg kurz nach Hauers Zusammenbruch auf Twitter geschrieben, und sich unter anderem darüber beschwert, dass im Plenarsaal nicht mal erlaubt sei, etwas zu trinken: Eine Klage, die viele Kollegen für übertrieben halten - schließlich dringt sie aus einem Parlament, das bisweilen von blauen Sesseln aus über die deutlich härteren Arbeitsbedingungen vieler Menschen im Land debattiert.

Aber Domscheit-Berg beschreibt auf Twitter auch präzise, was hier allen an die Nerven und geht und wie das an der persönlichen Substanz nagt: „Donnerstage haben Tagesordnungen, die von 9 Uhr morgens ohne irgendeine Pause bis theoretisch 5 Uhr früh gehen. In der Praxis werden ab Mitternacht einige Reden zu Protokoll gegeben, sodass oft ‚schon’ zwischen 2 und 3 Uhr Schluss ist. Niemand kann so lange zuhören.“

In der Tat war dieser Donnerstag wieder einer jener Mammut-Tage im Reichstag: die Tagesordnung startete um 9 und war geplant bis zum letzten Punkt – dem Energiewirtschaftsgesetz – um 1.40 Uhr. Auch früher gab es solche Tagesordnungen – aber nur in Ausnahmefällen tagte das Parlament dann so lang. Bisher galt der Konsens, dass in den späten Abendstunden die Reden zu Protokoll gegeben werden. Für diese Zeit waren meistens die ersten von drei Lesungen für ein Gesetz terminiert. Die Debatte wurde dann in den Ausschüssen und bei der nächsten Lesung geführt.

„Politische Strategie der Zerstörung“

Mit dem Einzug der AfD in dieser Legislaturperiode habe sich die Lage entschieden verschärft, sagt die Grünen-Abgeordnete Franziska Brantner unserer Zeitung. „Die AfD will die anderen Fraktionen planmäßig zermürben.“ Da das Parlament sich weigere, einen Vizepräsidenten aus der AfD zu wählen, gebe die Partei als Revanche prinzipiell keine Reden mehr zu Protokoll. So dehnten sich die Sitzungen bis in die Nacht. „Die AfD hat kein Interesse an einer konstruktiven parlamentarischen Arbeit. Sie verfolgt die politische Strategie der Zerstörung “, so Brantner. „Für die ist der Bundestag nur eine Showbühne.“

Die überlangen Tage seien nicht nur für die Abgeordneten anstrengend, die das Plenum um halb drei verließen und völlig übermüdet am anderen Morgen um neun wieder da sein müssten, sagt Brantner. „Es ist auch unverantwortlich gegenüber hunderten von Mitarbeiterinnen im Parlament.“

Zur Strategie der AfD gehört es auch – wie am Donnerstag geschehen – zu später Stunde einen Hammelsprung zu beantragen, um die Beschlussfähigkeit des Parlaments zu überprüfen. Am Donnerstag musste die Sitzung deshalb abgebrochen werden, weil zu wenige Abgeordnete im Saal waren.

Alarmbereitschaft auf Twitter

Zu den Belastungsfaktoren im Parlament gehört auch der neue, scharfe Ton, den viele Abgeordnete beklagen. Wie sich das Klima im Parlament verändert hat, zeigte sich schon kurz nach dem Zusammenbruch von Matthias Hauer. Wenige Minuten später ätzten die ersten Twitterer über das „Merkel-Virus“, welches im Parlament kursiere – zu einem Zeitpunkt, als noch niemand wusste, wie ernst der Zusammenbruch sein würde. Auf diese „teils erbärmlichen“ Kommentare verwies Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki (FDP), als er die Sitzung wiedereröffnete. Diesmal waren es nicht Parlamentarier, die sich so in sozialen Medien äußerten. Doch seit dem Einzug der AfD sind die Abgeordneten in dauernder Alarmbereitschaft – auch auf Twitter.

Die AfD hat in den sozialen Netzwerken enorme Reichweiten – und nutzt den Bundestag als Bühne. Kaum hat ein Abgeordneter aus der Fraktion geredet, wird die Rede schon hochgeladen. Ebenso verbreitet sich im Plenum ein teils bisher unbekanntes Vokabular. Und auch Redner anderer Fraktionen verschärften ihren Ton beträchtlich. Von einer „vergifteten“ Debatte und einer „Überemotionalisierung“ sprach die Unionsfraktionsvize Katja Leikert vor einiger Zeit. Und die Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen, Britta Haßelmann, konstatierte damals mit Blick auf die AfD: „Die Verachtung für unsere Demokratie ist unermesslich. Dass Abgeordnete anderer Fraktionen verächtlich gemacht, dass Menschengruppen völlig enthemmt diffamiert und mit Menschenfeindlichkeit überzogen werden, passiert ständig.“

Kein Baby im Plenarsaal erlaubt

Was tun? Franziska Brantner sagt, das ganze Haus müsse sich überlegen, wie man den Arbeitsalltag effizienter und sinnvoller gestalten könne. „Darüber werden auch schon Gespräche geführt.“ Mehr Sitzungstage seien nicht die Lösung. „Wir sind auch gewählt, um im Wahlkreis präsent zu sein.“ Lieber solle man Debatten besser koordinieren, damit nicht – wie zum Beispiel am Donnerstag in einem Fall – zwei Mal zum selben Thema geredet werde. Bei der Einbringung von Gesetzen reiche es, „wenn von der Koalition nur einer sagt, wie toll das Gesetz ist“.

Auch der Unionsabgeordnete Michael Hennrich sagt: „Es ist zwingend notwendig, dass sich Ältestenrat und Präsidium Gedanken um eine Reform machen.“ Sitzungen bis um 4 Uhr morgens nur um sinnentleerter Rituale willen seien grotesk. Hennrich plädiert für mehr Sitzungswochen um den Arbeitsanfall bewältigen zu können. Zu den Klagen, die oft von Oppositionsabgeordneten zu hören sind, gehören auch die kaum zu bewältigenden Aktenberge. In letzter Minute flattern zig Änderungsanträge in die Postfächer – diese durchzuarbeiten, sei eine Illusion.

Burnout und Schlafmangel

Es sind die Frauen unter den Abgeordneten, die sich trauen, auch die Grenzen der persönlichen Belastbarkeit zu thematisieren. Domscheit-Berg schreibt, sie kenne kaum Abgeordnete ohne chronischen Schlafmangel. „In dieser Legislatur standen wir 2 Mal auf, um viel zu früh verstorbener Kollegen zu gedenken.“ Sie habe auch Rückzüge wegen Burnout erlebt. Brantner, alleinerziehende Mutter, sagt, jeder Mensch könne mal mit nur zwei oder drei Stunden Schlaf auskommen. „Aber auf Dauer steckt man das nicht weg.“

Auch Katrin Helling-Plahr (FDP), Mutter eines Dreijährigen und eines fünf Monate alten Säuglings, wünscht sich ein etwas flexibleres Parlament. „Die Bedingungen machen klar: Kinder sind irgendwie bei Abgeordneten nicht vorgesehen“, sagt sie. Das gilt nicht nur für die endlosen nächtlichen Sitzungen, sondern auch für den Alltag, für den viel Planung nötig sei. Es gibt zwar ein Spielzimmer, aber keine Betreuung, und anders als in anderen Parlamenten sind Babies im Plenarsaal bis auf eine Ausnahme – die namentliche Abstimmung – verboten.

Als Helling-Plahr einmal drei Minuten vor Aufruf der Abstimmung mit Baby das Plenum betrat, rief ein Saaldiener sie zur Ordnung. Trotzdem glaubt die Parlamentarierin, alles sei eine Frage der Organisation. Anstrengend seien andere Berufe auch.