Viele Frauen tragen auf dem Cannstatter Wasen eine Radlerhose unter dem Dirndl (Symbolbild). Foto:  

Wenn die Grenzüberschreitung zur Normalität wird: Viele Frauen tragen unter ihrem Dirndl eine Radlerhose, um sich gegen Übergriffe zu schützen. Wir haben uns auf dem Cannstatter Volksfest umgehört.

Nicht nur das Dirndl hat auf dem Cannstatter Volksfest modisch Hochkonjunktur. Für viele Frauen gehören Radlerhosen genauso zum Wasenoutfit wie die Trachten selbst. Getragen werden die kurzen Hosen aber nicht nur für den Komfort. Viele junge Frauen ziehen sie an, um sich vor unerwünschten Blicken, Griffen oder sogenanntem Upskirting zu schützen. Mit letzterem ist das Fotografieren oder Filmen unter dem Rock gemeint. Gleich mehrere Frauen haben offen über die Sorgen gesprochen, die sie auf dem Wasen begleiten.

 

„Man will keine Blasenentzündung. Und wenn man auf der Bank steht, will man nicht, dass jemand drunter schauen kann“, erklärt Johanna, während die Bedienung Maßkrüge auf den Tisch der Freundinnen stellt. Dass es nicht nur bei Blicken unter das Dirndl bleiben muss, hat Laeticia, die ebenfalls am Tisch steht, schon erlebt. Eine Bekannte von ihr sei auf dem Wasen von Upskirting betroffen gewesen, erzählt sie. Passiert sei das im Gedränge zwischen den Tischen in einem Festzelt. Vom Besuch will sie sich davon aber nicht abhalten lassen, die Security habe sich schnell darum gekümmert, erinnert sie sich.

Bei der Wasenboje, einem Schutzraum für Mädchen und Frauen auf dem Volksfest, sei Upskirting bisher noch kein großes Thema gewesen, sagt die Projektleiterin Franziska Haase-Flaig. „Das heißt aber nicht im Umkehrschluss, dass es das nicht gibt. Ich glaube, dass das schon ein Thema ist, was es vielleicht bisher einfach noch nicht zur Wasenboje geschafft hat.“ Radlerhosen zu tragen sei für Frauen ein Instrument, um sich vor dieser Form der sexualisierten Gewalt zu schützen, sagt Haase-Flaig.

Die Wasenboje dient als Anlaufstelle für Frauen. (Archivbild). Foto: dpa/Bernd Weißbrod

Von den rund 150 Fällen, die die Wasenboje jeweils im letzten Herbst und im Frühjahr betreut hat, seien 25 Prozent als kritisch einzustufen, so die Projektleiterin. Darunter fallen unter anderem sexuelle Gewaltdelikte. „Ich glaube aber, dass das die Spitze des Eisbergs ist“, sagt Haase-Flaig. Lieber, als den Frauen Tipps zu geben, wie sie sich gegen Übergriffe schützen können, würde sie den potenziellen Tätern eine Ansprache halten und darauf den Blick richten.

Grenzüberschreitungen als Normalität

„Es ist unglaublich wichtig, dass über das Thema gesprochen wird“, sagt auch die Diplom- und Sonderpädagogin Mandy Hildebrandt, die sich seit Jahren in der feministischen Mädchenarbeit engagiert. „Für viele gehört die Grenzüberschreitung zur Normalität, weil wir damit aufwachsen“ sagt sie. „Außerdem spielen Gefühle wie Scham eine Rolle. Ein so tiefer Einschnitt in die Privatsphäre und eine klare Verletzung des Intimbereiches, einhergehend mit der Angst, dass es auf Social Media geteilt wird, ist für Betroffene unsäglich“, sagt sie. Sie geht davon aus, dass sich viele Frauen bei Upskirting-Vorfällen nicht an Stellen wie die Wasenboje oder die Polizei wenden. „Auch deshalb ist es wichtig, dass wir diese Grenzüberschreitungen immer wieder thematisieren.“

Eine Strategie: die falsche Dirndlschleife

Bei den Frauen in den Volksfestzelten geht es um verschiedene Formen von Sexismus. „Mir wurde noch nie unter den Rock gefasst, aber die Anmachkultur ist hier sehr schlimm“, sagt Siobhan. Die meisten Frauen würden ihre Dirndlschleife rechts tragen – ein Symbol, das zeigen soll, dass die Trägerin in einer Beziehung ist. Egal, ob das tatsächlich auch stimmt. „Aber respektlose Männer interessiert das nicht“, meint ihre Freundin Antonia. Der Alkohol sei das Problem, sind sie sich einig. Auf ihren Wasenbesuch haben sie sich vorbereitet. Eine der Frauen hat einen „Alarm“ – ein kleines Gerät, das im Notfall wild blinkt und piepst. Alleine gehen die Freundinnen nirgendwo hin. Nie alleine sein – diesen Vorsatz hört man hier immer wieder.

Nebenan geht es auch um die Sorge, dass jemand das Dirndl hochziehen könnte. Auch hier tragen mehrere der Frauen die typische Radlerhose unterm Kleid. Einer von ihnen sei genau das schon einmal passiert, als sie auf einer der Bierbänke gestanden habe. Was das in ihr ausgelöst hat? „Angst“, sagt sie knapp.

Ohne Radlerhose darf die Tochter nicht los

Doch nicht alle Frauen fühlen sich unsicher auf dem Wasen. „Im Club ist es schlimmer als hier. Ich fühle mich hier sicherer“, erzählt beispielsweise Marie. Birgit und ihre Gruppe von Freundinnen, alle zwischen Ende 40 und Mitte 50, fühlen sich ebenfalls wohl auf dem Gelände. „Aber bei jungen Mädchen ist das etwas anderes“, sagen sie. Birgit sorgt sich mit Blick auf ihre 16-jährige Tochter: „Ich habe gesagt, sie darf nicht ohne Radlerhosen gehen. Freundinnen von ihr hatten schon eine Hand unter dem Rock.“