Viele Firmen aus Baden-Württemberg liefern Produkte für militärische Zwecke. Radar-, Funkgeräte und Nachtsichtgeräte für die Bundeswehr kommen etwa von Thales aus Ditzingen. Foto: Thales

Egal ob Raketen, Munition, Satelliten oder Drohnenabwehrsysteme - viel Know-how kommt aus Baden-Württemberg. Die Rüstungsbranche im Land ist bedeutender als viele vermuten.

Stuttgart - Wer versucht, die Bedeutung von Raketenherstellern, Produzenten von Munition und Patronen, Funktechnik oder Motoren für Kriegsschiffe und Militärfahrzeuge in Baden-Württemberg in Zahlen zu fassen, der hat schlechte Karten. Seit 1997 wird die Produktion von Wehrgütern durch das Statistische Landesamt nicht mehr erfasst. Auch dem Wirtschaftsministerium liegen nach eigenen Angaben keine konkreten Erkenntnisse vor, wie es auf Anfrage heißt. Der Grund: Der Großteil der Unternehmen produziert Produkte, die man sowohl für zivile als auch militärische Anwendungen nutzen kann – sogenannte Dual-Use-Produkte. Nur in den wenigsten Fällen sei es möglich, eine Grenze für eine Einstufung als Rüstungsunternehmen zu ziehen, heißt es beim Wirtschaftsministerium in Stuttgart. Weil die Unternehmen zwischen zivilen und militärischen Produkten in ihren Bilanzen nicht unterscheiden, sei nicht zu ermitteln, welchen Anteil die Rüstungsproduktion an der Wertschöpfung in Baden-Württemberg insgesamt habe.

Dennoch, die Rüstungsbranche im Land ist bedeutender als viele erahnen. Insgesamt gibt es im Südwesten rund 120 Firmen an etwa 70 Standorten, die mit Rüstungsgütern Geld verdienen, schätzt die Informationsstelle Militarisierung – ein friedenspolitischer Verein, der mit dem Rüstungsatlas Baden-Württemberg die Branche erfasst. Die ist wieder in den Fokus gerückt, weil sich Mitarbeiter des Waffenherstellers Heckler & Koch wegen Waffenexporten nach Mexiko vor dem Landgericht Stuttgart verantworten müssen.

Die Branche ist schwer zu fassen

Heckler & Koch in Oberndorf produziert Handfeuerwaffen und moderne Maschinengewehre. Unweit von Heckler in der Stadt am Neckar sitzt auch die Rheinmetall-Tochter Mauser, die unter anderem Bordkanonen etwa für den Eurofighter geliefert hat. Einige Kilometer weiter in Dunningen-Seedorf werden bei Junghans Microtec (ein Gemeinschaftsunternehmen der Konzerne Diehl und Thales) Zünder und Zünderkomponenten vor allem für große Kaliber hergestellt.

Die Branche ist schwer zu fassen, denn neben reinen Rüstungsfirmen – dazu zählt auch das Munitionswerk des Panzerbauers Rheinmetall im badischen Neuenburg – gibt es auch etliche Unternehmen, die den Großteil ihres Umsatzes mit zivilen Produkten machen. Beispiel ZF Friedrichshafen. Deutschlands drittgrößter Autozulieferer ZF beliefert vor allem die Automobilindustrie – vom Getriebe bis zum Airbag –, liefert aber auch Komponenten für militärische Fahrzeuge und beispielsweise Panzer. Ähnlich ist das bei Daimler. Der Autobauer baut in Mannheim Motoren für militärische Lkw und in Wörth Unimogs. Auch Autozulieferer Mahle liefert Motorkomponenten und -Kühlsysteme für militärische Fahrzeuge. Und der Walldorfer Softwarespezialist SAP hat eine Sparte für militärische IT.

Ein wichtiger Cluster ist die Bodenseeregion

Ein wichtiger Cluster der Rüstungsbranche in Baden-Württemberg sei die Bodenseeregion, sagt Peter Scheben vom Bundesverband der deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie (BDSV). Schätzungen zufolge entfallen rund ein Drittel der 20 000 bis 25 000 Jobs der Branche in Baden-Württemberg auf den Bodenseeraum.

Die Ballung hängt auch mit der Tradition von Firmen wie Maybach, den Zeppelinwerken oder Dornier zusammen, mit denen ab Ende des 19. Jahrhunderts ein Wehrtechnikzentrum entstand, das in beiden Weltkriegen schon bedeutend war und heute auch noch wichtiger Lieferant für militärische Anwendungen ist. Am Bodensee sitzen weit mehr als ein Dutzend Unternehmen, die Rüstungsgüter – die Firmen sprechen eher von Wehr- oder Sicherheitstechnik – in ihrem Produktprogramm haben. Diehl Defence in Überlingen etwa stellt unter anderem Lenkflugkörper und Artilleriemunition her, Airbus Defence and Space in Immenstaad setzt auf das Geschäft mit Satellitenkommunikation, Aufklärungs- und Überwachungssystemen sowie Radaranlagen, Hensoldt auf Verteidigungselektronik. Firmen wie Avitech (Software für Flugüberwachung) oder MTU (Rolls-Royce Power Systems), Lieferant von Motoren für Panzer und Fregatten, sind in Friedrichshafen beheimatet.

Enge Zusammenarbeit mit der Forschung

Neben dem Bodensee mit Schwerpunkt Luft-, Raumfahrt und Antriebstechnik und Oberndorf (Waffen) gibt es eine gewisse Ballung von Rüstungsfirmen im Rheintal, in der Region Ulm und im Großraum Stuttgart. Firmen wie Rotino (Unterwasser-Jet-Antriebe etwa für Kampftaucher), Atos (IT-Sicherheit), Rhode & Schwarz SIT (Nato-Ausrüster seit 2004 und Spezialist für Funk- und Verschlüsselungstechnik für Marine und Luftwaffe) sitzen in Stuttgart. Thales, ein Konzern, der etwa auf dem Gebiet der Flugsicherung, Cybersicherheit und Verschlüsselungstechnik tätig ist, produziert in Ditzingen beispielsweise Radar- und Funkgeräte sowie Nachtsichtbrillen fürs Heer. Standorte wie Schwaikheim (hier sitzt Kärcher Futuretech, Lieferant von Feldlagern bis zu Dekontaminationssystemen für Kampfstoffe) oder Ostfildern (die Firma Telerob, die Roboter zur Bombenentschärfung auch für zivile Einsatzkräfte liefert) liegen auch im Großraum Stuttgart.

Insgesamt verdanke der Rüstungssektor im Südwesten seine Stärke auch der engen Zusammenarbeit mit der Forschung, allen voran dem Fraunhofer-Verbund Verteidigungs- und Sicherheitsforschung, sagt Andreas Seifert, Vorstand der Tübinger Informationsstelle Militarisierung (IMI).

Informationshoheit auf dem Gefechtsfeld

Die Lage richtig zu beurteilen kann oft wichtiger sein, als über die schlagkräftigste Waffe zu verfügen. Am Fraunhofer-Institut für Optronik, Systemtechnik und Bildauswertung (IOSB) in Ettlingen – eines der Fraunhofer-Häuser in dem Verbund – tüfteln Forscher an Schutz- und Sicherheitstechniken, sei es der digitale Lagetisch oder Geräte, die dem Nutzer auch in der Finsternis den bestmöglichen Blick bieten.

Es sei wichtig, bestimmte Kernkompetenzen und Schlüsseltechnologien in Deutschland zu erhalten, sagt auch Industrievertreter Scheben. Als Stichworte nennt er Verschlüsselung- und Kryptotechnologien sowie Software und Cybersicherheit, denn es gehe auch darum, wer die Informationshoheit auf dem Gefechtsfeld habe, wie die Daten verteilt und Prozesse digitalisiert würden. Mit bundesweit 120 000 bis 130 000 direkten Arbeitsplätzen und etwa 230 000 indirekten Arbeitsplätzen sei die Branche im Vergleich etwa zur Automobilindustrie, die bundesweit mehr als 800 000 Beschäftigte zählt, vergleichsweise klein, doch für die Souveränität der Bundesrepublik Deutschland sei sie von enormer Bedeutung, sagt Scheben.