Anton Lutz in seiner grünen Oase über den Dächern von Stuttgarts Süden. Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Stuttgart von oben, von seinen Dachterrassen und Dachgärten aus gesehen. Das ist das Thema unserer Sommerserie „Über den Dächern der Stadt“. Wir geben Einblicke in öffentliche und private Dachterrassen, wie beispielsweise die von Physiker Anton Lutz im Stuttgarter Süden.

Stuttgart - Ein Rückgebäude – das klingt nach Hinterhof, Heinrich Zille und wenig Licht, Luft und Sonne. In Berlin vielleicht, aber nicht in Stuttgart. Hier, im Süden der Stadt, ist es eine Adresse voller Vorzüge. Vorne, in der Immenhofer Straße, rauscht unablässig der Verkehr, dahinter, im Hof, ist der Lärm wie abgeschaltet. Es ist das Privileg der zweiten Reihe. Und man steht vor dem Gebäude, dessen schöne Klinkerfassade grün überwuchert ist: mit einer Kaskade von Glyzinien, die den Blick in die Höhe lenkt. Man ahnt, dass sich dort oben jemand ein grünes Paradies geschaffen hat.

Anton Lutz öffnet die Schiebetür aus Milchglas: „Bitte sehr“, sagt er einladend und deutet auf die steile und schmale hölzerne Treppe. Sie führt zu seiner Oase: ein bisschen verwildert und so naturbelassen, wie es vor allem in mediterranen Breiten üblich ist. Alles wächst und wuchert in Töpfen, Eimern, alten Zinkwannen, wie es kommt und sich entfalten will. Natur pur, ohne gärtnerische Diktatur und verwöhnt vom Klima, das sich im Talkessel oft aufheizt.

Für den Rasen musste eine zehn Zentimeter dicke Humus-Schicht aufs Dach

„Wir haben das Haus vor zwölf Jahren gekauft“, erzählt Anton Lutz (61). Wir, das waren er, seine Frau und Freunde. Auf vier Etagen verteilen sich großzügige Altbauwohnungen. Darüber ein Flachdach, wie es auch alle umstehenden Häuser aufweisen. Also das ideale Terrain für die Erfüllung des Traums von einem Dachgarten.

Nicht nur für das persönliche Wohlbefinden ist der Garten gedacht, sondern auch für die Klimaverbesserung im dicht bebauten Viertel. Denn Umwelt und Ökologie sind für Anton Lutz, Physiker von Beruf, das vordringliche Thema. Der gebürtige Saulgauer gehört zu denen, die man früher als Alternative abstempelte. „Ich war bei den Hausbesetzern in der Nesenbachstraße dabei“, verrät er. Sein Umweltengagement mündete in einem eigenen Unternehmen für Planung, Finanzierung und Bau von ökologisch sinnvollen Energieanlagen. „Solar- und Windenergie“, schiebt er erklärend nach.

Wie viele Kubikmeter Erde hochgepumpt werden mussten, um einen zehn Zentimeter hohen Humusboden für den Rasen zu bekommen, weiß Lutz heute nicht mehr. Die zweite Investition war ein stabiler Metallzaun ums Geviert. Und als Drittes wurde ein kleiner Teich angelegt. Dann erst kamen die Pflanzen. „Vieles ist auch von ganz allein gewachsen“, erzählt Anton Lutz. Wie die Schafgarbe, die sich ganz schön breitgemacht hat. Denn die Natur kann sich hier ungehemmt entfalten. Anderes brachten Freunde zu den Festen mit. Eine umfangreiche Möblierung mit Tischen, Stühlen und Sonnenliegen zeugt davon, dass dieser Dachgarten Schauplatz heiterer Geselligkeit war und immer noch ist. „Hier passen locker 200 Leute drauf“, sagt Lutz.

So verbessert der Dachgarten von mindestens 100 Quadratmetern auch das mitmenschliche Klima. Ein Grill ist dabei natürlich unerlässlich. Fast übersieht man ihn, so sehr ist er von Büschen, Sträuchern und den kletternden Glyzinien eingewachsen. Hier scheint alles zu gedeihen: Der Oleander blüht wie im Süden, die Feuerlilien leuchten orangefarben, die Erdbeerpflanzen tragen kleine Früchte.

Kein Panoramablick ins Weite

Dekorativer Mittelpunkt des Dachgartens ist ein alter Kamin, bestückt mit einem Terrakotta-Brunnen. An zwei Karabinerhaken, der eine am Kamin, der andere an einem mittlerweile funktionslosen Aufzughäuschen angebracht, hängt regelmäßig eine große weiße Hängematte: Sie ist der bevorzugte Siesta-Platz von Anton Lutz.

„Sie hätten den Dachgarten vor drei Jahren sehen sollen, da war er noch viel schöner“, meint Lutz. Diese vergangenen drei Jahre markieren einen schmerzlichen Einschnitt im Leben des Physikers: Er erlitt einen Schlaganfall. Von den Folgen hat er sich inzwischen zwar weitgehend erholt, vieles blieb dennoch auf der Strecke. Privates ebenso wie Berufliches. Er hat das Unternehmen notgedrungen abgegeben, der Einsatz für seine Rehabilitation war wichtiger. „Und darum hat auch der Dachgarten etwas gelitten“, bedauert er. Obwohl er jetzt viel mehr Zeit für diesen habe und ihn keineswegs nur den natürlichen Energien Sonne, Wind und Regen überlasse. Wie zum Beweis greift er sich gleich den Schlauch zum Gießen und Bewässern.

Von Anton Lutz’ Refugium aus hat man keinen Panoramablick ins Weite über die Dächer von Stuttgart. Man schaut stattdessen auf die Nachbarhäuser, die diese private Oase, flankiert von riesigen Robinien, einrahmen wie Beschützer. So bleibt die grüne Insel im Häusermeer vor der restlichen Welt verborgen. Denn Hinterhöfe hüten ihre Geheimnisse gut.