Anders als bei Helene Fischer gab es beim Udo-Konzert keine Sitzplätze im Innenraum. Nur oben auf den Tribünen konnte man sitzen. Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Im Herbst seiner Karriere spielt Udo Lindenberg in der Form seines Lebens – und stellt in der Mercedes-Benz-Arena eine glänzend geölte Rock-Revue auf die Bühne, die auch als schräg-melancholische Allegorie auf das Leben und den ganzen Rest funktioniert.

Stuttgart - Woran erkennt man, dass man auf dem Weg zu einem Konzert von Udo Lindenberg ist? Klarer Fall – an den Eierlikörflaschen im Stadionbereich. Das alkoholische Markenzeichen von Deutschlands dienstältestem Rockstar (das übrigens lediglich dem Ölen der Stimmbänder diente; als Betriebsstoff griff der Mann einst natürlich zu bedeutend profunderen Spirituosen) ist am Samstagabend im Umfeld der Mercedes-Benz-Arena jedenfalls deutlich präsenter als gemeinhin bei Musikevents.

Etwas unübersichtlicher wird die Lage dann kurz vor 20 Uhr im Inneren des Stadions. Der Mann, der da die Untertürkheimer Kurve abschreitet – Hut, schwarzer Mantel, Sonnenbrille: Ist er’s wirklich? Oder nur einer der vielen Doppelgänger und Look-a-likes, die Udo Lindenberg umschwirren wie die Motten das Licht? Wenige Minuten später folgt die Auflösung: Ja, es war wirklich Udo Lindenberg, der da in einem kleinen Zelt verschwand – um hier einen Drahtkäfig zu besteigen und an einem Seil hoch über den Köpfen von 40 000 Zuschauern über den Stadion-Innenraum auf die am gegenüberliegenden Ende aufgebaute Bühne zu segeln.

Dort durchbricht derweil der Bug eines Kreuzfahrtschiffs den Vorhang, Rockliner heißt es, eingerahmt wird es von veritablen Kaventsmännern auf Videowänden. Davor führt ein langer Steg hinaus in den Innenraum, dahinter thront ein riesiger Kran (dazu später mehr): großes Besteck für eine Honky-tonky-Show im XXL-Format, mit der „Panik-Udo“ gelang, was die sonst hier kickende Truppe des VfB schon lange nicht mehr schaffte: ein ganzes Stadion zu begeistern.

Zurück in der Champions League

Geschmeidig im Gang, aus der Hüfte heraus federnd den Raum durchtigernd, macht die „Nachtigall aus dem Münsterland“ ihr Ding vielleicht so gut wie nie zuvor in ihrer Karriere. Man muss nicht von Altersweisheit reden, aber im Herbst seiner Laufbahn hat der Panikrocker Lindenberg ein Stadium erreicht, das sich wohltuend von seiner oft etwas grobschlächtigen Performance vergangener Problemjahre unterscheidet. Rastlos entwarf Udo phasenweise neue Typen: Votan Wahnwitz, Bodo Ballermann, Johnny Controlletti – Gestalten, die er später von Comicfiguren zu Karikaturen machte, und sich selbst gleich mit. Zeiten auch, in denen er ein wenig zu oft mit „Lady Whisky“ und „Woddy Wodka“ um die Häuser zog. Lindenberg weiß darum und kleidet diese Erkenntnis in eine sympathisch-lakonische Publikumsbegrüßung: Im Stadion einer Mannschaft spiele er, die „jetzt eine kleine Ehrenrunde in der zweiten Liga einlegt. Ist mir auch schon mal passiert – und danach: wieder Champions League!“.

In der Bundesliga der deutschen Musik zählt der Kapitän des Rockliners heute jedenfalls wieder zu den Spitzenkräften. Eine Mischung aus Romantik (schön stimmungsvoll: „Hinterm Horizont“ und „Eldorado“), Rebellion (politisch explizit anmoderiert: „Wozu sind Kriege da“) und Rustikalität („Andrea Doria“, „Sonderzug nach Pankow“ und „Candy Jane“, vorgetragen als Hit-Medley mit voller Kapelle) prägt die Haltung, Boogie-Woogie-Rock’n’Blues prägt den Sound, wobei manches feinjustiert wurde. „Cello“ etwa verwandelt sich in eine rhythmisierte Pianopop-Nummer, die Lindenberg im Duett mit Gastsänger Daniel Wirtz Richtung Rap bugsiert.

Otto Waalkes überrascht mit einem AC/DC-Klassiker

Dazu segelt hoch am Himmel (der Kran nimmt die Arbeit auf) eine in Neonfarben beleuchtete, transparente Skulptur eines Cellos gefüllt mit sorgsam angeseilten Burlesque-Tänzerinnen vorüber. Volle Kraft voraus geht es weiter: Ein Ufo schwebt durch’s Stadion (aus dem sich Gerhard Gösebrecht und ein paar weitere Aliens abseilen).

Udo-Kumpel Otto Waalkes überrascht in einer deutschen Version des AC/DC-Klassikers „Highway to hell“ als veritabler Shouter, Helge Schneider zeigt am Saxofon seine Klasse als Jazzer, und Pur-Sänger Hartmut Engler darf in einem unauffälligen Kurzauftritt den Rocker in sich suchen. Und immer mal wieder blitzt Lindenbergs Fähigkeit als schräg phrasierender, Worte rabiat zurecht hobelnder Sprachschmied auf. Jenseits der Songs freilich sind die alten Zeiten abgehakt: Der „Lindi-Sprech“ verzichtet heute weitgehend auf die Kalauerei vergangener Jahre und hat rhetorische Würde (zurück-)gewonnen.

Nichts zu mäkeln also? Okay: „Coole Socke“ klingt mehr nach einem Song für den „Tigerentenclub“ als nach gestandenem Rock, und kurze Zeit dümpelt der Rockliner etwas zu sehr im Fahrwasser von Status Quo vor sich hin. Aber das stört an diesem herrlich kurzweiligen, saftig-lebensnahen, weil mit Emotionen von Optimismus bis Melancholie aufgeladenen Abend kaum. Und selbst ein Kinderchor zwitschert oberhalb der Peinlichkeitsschwelle. Ansonsten schmeißen mit Gitarrist Steffi Stephan, Drummer Bertram Engel und Keyboarder Jean-Jacques Kravetz drei Urmitglieder des Panik-Orchesters den Laden in exzellenter Manier: spielfreudig, diszipliniert, uneitel. Und mit Carl Carlton und der famosen Carola Kretschmer halten zwei weitere Spitzenkräfte an den Saiten die Maschine bestens am Laufen.

Gegen 22:45 Uhr und nach einem halben Stündchen allerseits lässig ignorierten Regens dann: Udo Lindenberg legt den Raumanzug an und macht via Seilzug und Kran den Abflug. Auf der Leinwand startet eine Rakete, und ein amtliches Feuerwerk schickt die Zuschauer auf den Heimweg. „Man sieht sich bald wieder“, versprach der „Udonaut“ zuvor noch als letzten Gruß. Gerne doch – es war uns ein Vergnügen.