Jette (May-Britt Klenke) und ihr Freund Mario (Thomas Schubert) stehen vor großen Entscheidungen. Foto: WDR/Sutor Kolonko

Der TV-Film „Das freiwillige Jahr“ im Ersten erzählt faszinierend lebensnah von der Krise einer 19-Jährigen. Jette weiß,was ihr Vater verlangt, sie ahnt, was ihr Freund möchte. Aber was will sie?

Stuttgart - Eine Weile fragt man sich, was dieser Mann wohl von Beruf ist. Dieser etwas angeknittert und doch energisch wirkende Vater Urs, der zu Beginn des außergewöhnlichen TV-Films „Das freiwillige Jahr“ seine 19-jährige Tochter Jette zum Flughafen fahren will. Er agiert mit einer Mixtur aus Lässigkeit und Tyrannei, Fürsorge und Selbstherrlichkeit. Man merkt ihm an, dass er sich für einen vernünftigen, unkomplizierten, zugänglichen Mann hält, aber auf jene Art, die Menschen haben, die bewusst auf Statusinsignien verzichten und für deren Ablegen noch mehr beachtet werden möchten als für deren Tragen. Wie selbstverständlich geht Urs davon aus, dass andere tun, was er sagt, dass sie ihm widerspruchslos zuarbeiten.

Auf der Fahrt zum Flughafen machen Jette und Urs noch einen Umweg, um eine Kamera abzuholen, und das gerät zum Debakel. Das wird nicht mit Erklär- und Orientierungsdialogen vorbereitet. Dies ist kein Film mit Stützrädchen für Unaufmerksame. Man wird mitten hinein geworfen ins Leben anderer Menschen, muss sich aus Dialogen und Handlungen erschließen, was überhaupt los ist, welche Vorgeschichten da mitspielen, wie die Personen zueinander stehen und welche Konflikte zwischen ihnen schwelen.

Ein Arzt knackt Türen

In den falschen Händen kann so etwas ein eitles Verwirrspiel werden, das beim Zuschauen schlechte Laune macht. Das Regie und Drehbuchduo Ulrich Köhler und Henner Winckler aber und die großartigen Darsteller – zu Sebastian Rudolph als Urs und Newcomerin Maj-Britt Klenke als Jette stoßen neben anderen noch Katrin Röver und Thomas Schubert – lassen das Hineintasten in diese Welt dank der Wahrhaftigkeit des Erzählens auch dann zum Vergnügen werden, wenn die Figuren sich und einander wieder einmal quälen.

Die Kamera liegt beim Bruder von Urs, der ein Alkoholproblem hat. Als er die Tür nicht öffnet, wird Urs übergriffig, spannt Nachbarn fürs Türknacken ein – er ist der Dorfarzt, wird sich noch zeigen, er sieht die Welt als eine voller Sprechstundenhilfen und Patienten, in der letztlich sein Wort gilt.

Heraus aus dem Kindsein

Maj-Britt Klenke spielt so, dass man gar nicht wegschauen kann, das Hin- und Hergerissensein zwischen Auflehnung gegen diesen Vater und konfliktvermeidende Einordnung in seine Pläne. Jette ist auf dem Weg nach Costa Rica für das freiwillige Jahr, auf das der Titel verweist. Das wirkt zunächst wie ein emanzipatorischer Akt, ein Schritt heraus aus dem Kindsein. Aber dann bekommen wir mit, dass der Vater dieses Projekt vorgeschlagen und eingefädelt hat.

Die Fahrt zum Flughafen scheitert, Jette braust mit ihrem Freund los, von dem sie sich schon getrennt hatte – aber diese Aktion mündet nicht in Roadmovie-Glück. Auf jedem Weg, den die Figuren nehmen können, warten Zweifel, Probleme, Uneinigkeiten wie reifenschreddernde Flaschenböden. Das folgt keiner Malen-nach-Zahlen-Dramaturgie, sondern spannend und ergreifend der Irrationalität des Lebens. Kein Wunder, dass dieser TV-Film in den Wettbewerb des Festivals von Locarno eingeladen wurde.

Ausstrahlung: ARD, 27.05. 2020, 20.15 Uhr. Bereits vorab und bis zum 27.08. in der Mediathek des Senders abrufbar.