Aryan (Zsombor Jeger) kann schweben. Foto: Proton Cinema/Match Factory/KNM/Rév Marcell

Ungarns Grenze ist die harte Kante Europas. Der ungarische Filmemacher Kornél Mundruczó erzählt in „Jupiter’s Moon“ eine Geflohenengeschichte mit intensiven Bildern und magischem Realismus. Ein Erschossener erwacht wieder – und kann nun schweben.

Stuttgart - Drüben am anderen Ufer, sagt der Schlepper, liege Europa. Die von einer langen Tour ermatteten Geflohenen steigen angst- und hoffnungsvoll in die Boote. Aber es wird nichts mit dem leisen Grenzübertritt, die Scheinwerfer der ungarischen Polizei flammen auf. Stimmen bellen, Schüsse fallen, Boote kentern, Menschen ertrinken. Viele derer, die es ans Ufer schaffen, werden in Gewahrsam genommen. Einige entkommen zunächst, hetzen durch den Wald, auf Forstwegen verfolgt von Polizeiwagen.

Seltsame Anziehungskraft

Der 17-jährige Aryan (Zsombor Jeger) läuft besonders flink, und der Beamte, der ihn jagt, ist besonders frustriert. Er greift zur Waffe und schießt, Aryan wird dreimal in die Brust getroffen. Er sackt zum Sterben zusammen. Da könnte Kornél Mundruczós „Jupiter’s Moon“ eigentlich schon zu Ende sein, wäre dann ein intensiver, realistischer Film über die Erfahrung von Flucht, Vertreibung und Grenzpolitik.

Der Ungar Mundruczó aber, ein wagemutiger Erbe der großen Filmtradition seines Landes, fängt da erst an zu erzählen. Das Blut, das aus Aryans Wunden tritt, läuft nicht zu Boden. Es steigt in Tropfen zum Himmel auf, als werde es vorangesogen von einer Anziehungskraft, die eigentlich Aryans Seele aus dem Körper holen will. Aber etwas klappt da nicht, falls das überhaupt die richtige Erklärung ist (der Film wird bis zum Schluss keine Deutung vorgeben). Aryans Seele bleibt im Körper, der sich nun um die Kugeln in seinem Inneren nicht mehr scheren muss, weil die zu einem vorigen Leben gehören. Sie hält aber Kontakt zu jener Anziehungskraft außerhalb des Irdischen und kann Aryan bei Bedarf schweben lassen.

Mitten hinein

Mundruczó, Jahrgang 1975, bettet wie etwa Theo Angelopoulos und Emir Kusturica Fantastisches in eine schroffe Realität ein. Aryan landet in einer zynischen, schmuddeligen Fremde. Der Arzt Gabor Stern (Merab Ninidze), der ihm, dem Gejagten, erst einmal Unterschlupf gibt, will Kapital aus ihm schlagen. „Jupiter’s Moon“ erklärt die Situationen erst einmal nicht, wirft uns mitten in sie hinein. Wir müssen uns Zusammenhänge zusammenreimen – wie Aryan also.

Wichtiger als die Dialoge sind die bannenden, unberechenbaren Bilder von Kameramann Marcell Rév. Die spiegeln mit Enge und Schmuddel Ungarns gesellschaftliches Klima, mit wilder Beweglichkeit Aryans Unruhe und zeigen mit Momenten stets bedrohter Poesie jenes utopische Engelsschweben, das Aryan in dieser Welt nur zusätzlich zur Zielscheibe macht. Wer couragierte, eigenwillige europäische Filme sucht, wird hier fündig.

Ausstrahlung: Montag, 21.40 Uhr. Auch in der Arte-Mediathek sowie bei Amazon Prime Video.