Protestcamp im Hambacher Forst Foto: MDR/Hoferichter&Jacobs

Ein ARD-Projekt sucht nach Gründen für das diffuse Unbehagen im Land.

Stuttgart - Es gibt ein diffuses Unbehagen im Land – viele Menschen fühlen sich nicht wahrgenommen. Das Gefühl mag abstrakt sein, aber seine Konsequenzen sind sehr konkret und lassen sich beziffern: In Wohngegenden mit überdurchschnittlich hoher Arbeitslosigkeit ist die Wahlbeteiligung deutlich niedriger als in den sogenannten besseren Vierteln. 1990 betrug sie quer durch alle Schichten 80 Prozent. Bei Wählern mit hohem Einkommen hat sich daran nichts geändert, in einkommensschwachen Schichten liegt sie heute bei unter 50 Prozent.

Eine gewisse Elitenskepsis („die da oben“) hat es schon immer gegeben, und auch Politikverdrossenheit ist kein neues Phänomen. Jan N. Lorenzen kann in seiner Dokumentation „Wer beherrscht Deutschland?“ (MDR/WDR) jedoch nachweisen, dass die Repräsentanten des Volkes in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie so weit vom Volk entfernt waren wie heute. Zwar ist der Anteil der Akademiker auch in der Bevölkerung auf 18 Prozent gestiegen, aber längst nicht im gleichen Maß wie bei den Abgeordneten (83 Prozent); im Bundestag finden sich kaum noch Arbeiter oder Angestellte. Einer von Lorenzens Gesprächspartnern bringt die Misere auf den Punkt: Wenn man bei der Wohnungssuche nicht mit 150 Mitbewerbern konkurrieren muss, weil man sich eine teure Bleibe leisten kann, erschließt sich einem die Problematik der Wohnungsnot nur in der Theorie.

Die Akademiker sind unter sich im Bundestag

Der ehemalige Innenminister Thomas de Maizière weist in dem Film zwar darauf hin, dass Politiker sehr wohl Kontakt zu den „Menschen im Lande“ (wie Helmut Kohl einst zu sagen pflegte) hätten, und prompt zeigt die Kamera ihn in vergleichsweise lässiger Kleidung bei einem Ortstermin. Bei der Beschreibung eines üblichen Tagesablaufs durch den Chemnitzer Bundestagsabgeordneten Detlef Müller (von Beruf Lokführer) wird aber auch deutlich: In der Regel verbringt ein MdB den Alltag unter seinesgleichen. Für die Dominanz der Akademiker hat der SPD-Politiker eine plausible Erklärung: Wer zehn Stunden am Tag arbeitet, ist nach Feierabend viel zu müde, um noch die für eine politische Karriere unerlässlichen Netzwerke zu knüpfen. Nach Ansicht von Lorenzen ist es daher kein Wunder, dass sich einige der wichtigsten Entscheidungen der letzten zwei Jahrzehnte – Hartz IV, Energiewende, die Aufnahme von Flüchtlingen – an den Wünschen der höheren Schichten orientiert hätten. Das verstoße jedoch gegen eins der wichtigsten Prinzipien einer Demokratie: Alle Bürger sollen das gleiche Gehör finden.

Die Diskrepanz zwischen Politik und Volk ist nur ein Aspekt seines Films. Einige seiner Exempel sind von bemerkenswerter Anschaulichkeit. Am Beispiel eines Coburger Automobilzulieferers verdeutlicht der Autor, wie unverhohlen die Wirtschaft mitunter Einfluss auf kommunale Entscheidungen nimmt. Gerade Unternehmen mit mehreren Standorten können bei Auseinandersetzungen mit einer Gemeinde stets die Drohung mitschwingen lassen, ihre Gewerbesteuer einfach anderswo zu zahlen, vom Arbeitsplatzargument ganz zu schweigen. Im Rheinland wiederum, wo Lorenzen eine Bürgerinitiative vorstellt, haben die Proteste gegen den Braunkohlentagebau tatsächlich Früchte getragen. Und auch das Engagement eines Leipziger Gewerkschafters gegen dauerhafte Leiharbeit war erfolgreich.

Auch Betroffene vor Ort kommen zu Wort

Statistiken und Hintergrundinformationen vermittelt Lorenzen mit Hilfe anschaulicher und originell animierter Zwischenspiele. Dank der vielen Facetten ist der Film ungewöhnlich abwechslungsreich. Das hat nicht zuletzt mit einer geschickten Auswahl der Gesprächspartner zu tun. Dass Lorenzen nicht nur Politiker und Sachverständige, sondern auch Betroffene etwa aus dem sächsischen Hoyerswerda oder dem Kölner Brennpunkt Chorweiler zu Wort kommen lässt, sollte selbstverständlich sein; dort halten die Menschen ein Thema wie „Gender-Gerechtigkeit“ für ein typisches Problem der Wohlstandseliten. Aber auch die Repräsentanten und Experten sind klug ausgesucht, zumal sie in der Lage sind, ihre Ausführungen so zu formulieren, dass man ihnen auch folgen kann.

Montag, ARD, 20.15 Uhr