Die Mineure erledigen in den Tunneln für Stuttgart 21 eine harte Aufgabe – und führen ein außergewöhnliches Leben Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Mineure sind gefragte Spezialisten. Unverzichtbar für viele große Bauprojekte. Der Alltag der Männer ist hart – und zieht sie doch in seinen Bann. Ein Besuch unter und über der Erde.

Stuttgart - Der Begriff könnte schöner gewählt sein. „Wohnlager 3“ steht am Eingang der Containersiedlung. Für poetische Anflüge ist hier kein Platz. Das passt zur Optik. Ein langer Flur, links eine Küche mit einigen Gaskochern, rechts ein Bad mit vier Waschbecken und Duschen. An der Wand ein Erste-Hilfe-Koffer und ein Pflasterspender. An einer Tür hängt ein Kiss-Poster, dahinter liegt ein 15 Quadratmeter kleines Containerreich für eine Person. Luxus sieht anders aus. Und das, obwohl die Männer, die hier wohnen, Jahre in dieser Umgebung verbringen. Viele sogar ihr ganzes Berufsleben.

„Leise bitte, oben schlafen die Leute“, flüstert Günther Weilharter. Der kräftige Österreicher ist Bauleiter bei der Firma Hochtief, verantwortlich für den Cannstatter Tunnel des Bahnprojekts Stuttgart 21. Doch so will er eigentlich gar nicht genannt werden. „I sag immer: I bin Tunnelbauer“, erklärt er lachend.

So wie die meisten der 120 Männer, die hier leben. Im einzigen Containerdorf auf dem Baustellengelände. Zwei weitere finden sich außerhalb der Stadt. Dreistöckig stehen die simplen Behausungen aufeinander. Von oben sieht man hinüber zum benachbarten Kulturbetrieb Wagenhallen. Ein Erdhaufen türmt sich nebenan, überall Schienen und Zäune. Neben dem Containerdorf das Käferstübchen, der kleine Biergarten, in dem im Sommer abends gegrillt und zusammengesessen wird. Jetzt ist er mit einem Baustellenband abgesperrt. Gegenüber stehen die Arbeitscontainer der Baufirmen. Eine durch und durch nüchterne Umgebung.

Der Tag läuft in Zwölf-Stunden-Rhythmen

Mineure, Maschinen- und Elektromeister leben hier. Satellitenfernsehen ist das einzige Extra. Aber viel Zeit bleibt ohnehin nicht. Die Spezialisten für den Tunnelvortrieb arbeiten auf der Baustelle in Zwölf-Stunden-Schichten. Entweder Tag oder Nacht. Dunkel ist es meistens, unter Tage sowieso, aber im Winter auch oben an der frischen Luft. Arbeiten, kochen, schlafen – zehn Tage lang. Dann geht es für fünf Tage nach Hause. „Wir sind hier eh ein bisschen außerhalb, da kriegt man von der Stadt nicht viel mit“, sagt Weilharter. Nur das Mountainbike bietet für viele Gelegenheit, mal rauszukommen. „Das braucht man, um auch einmal den Kopf frei zu kriegen“, sagt der 57-Jährige, „deshalb fahren Tunnelbauer Radl.“

Weilharter kennt sich besser aus in Stuttgart als viele seiner Kollegen – schließlich ist Stuttgart 21 bereits seine achte Baustelle in der Landeshauptstadt. „A bissel was hab i scho baut“, sagt er und lacht. Seit 35 Jahren gräbt er Tunnel, war auf Baustellen in Deutschland oder Norwegen, hat an der Stuttgarter Stadtbahn ebenso mitgewirkt wie an der Internationalen Gartenbauausstellung auf dem Killesberg. Immer fernab der Familie. Seine Leute kommen aus Österreich, wo der Tunnelbau eine lange Tradition hat, aber zunehmend auch über Subunternehmen aus Polen oder Ungarn. Sie alle wohnen hier im Container – jahrelang. „Heimschläfer haben wir keine“, sagt Weilharter und lacht.

Mit dem Aufzug geht es hinab in die Baugrube und hinein in den Cannstatter Tunnel. Vorbei an der Heiligen Barbara, der Schutzpatronin der Bergleute. Die Baustelle ruht nur über Weihnachten, an Ostern und am Barbaratag Anfang Dezember. „Das ist für uns der heiligste Tag im Jahr. Da zu arbeiten, würde Unglück bringen“, sagt Weilharter. Und fügt mit einem Schmunzeln hinzu: „Wenn sie die Barbara sehen, werden unsere harten Jungs zu Lämmern.“

Die Familie muss mitspielen

Im Tunnel herrscht diffuses Licht. Dreck liegt in der Luft, legt sich über die Kleidung und in die Lungen. Feinstaubalarm für den Straßenverkehr wirkt hier unten geradezu grotesk. Günter Laggner und seine Kollegen inspizieren gerade das Gebirge, wie die Tunnelbauer das Gestein nennen. Die Mineure schnaufen kurz durch. „Seit drei Jahren arbeite ich auf dieser Baustelle“, sagt der Kärntner, „und ich bin auch sicher noch eine Weile da. Arbeit haben wir hier schließlich genug.“ Der 46-Jährige ist dieses Leben seit zwei Jahrzehnten gewöhnt. Hat er Tagschicht, so wie jetzt, geht es um 6 Uhr morgens in den Tunnel und um 18 Uhr wieder heraus. Dunkelheit den ganzen Tag. „Da sieht man von der Umgebung nicht viel. Und die Familie muss auch mitspielen“, erzählt er. Die Heimfahrt nach zehn Tagen Arbeit dauert fünf Stunden. Die Männer bilden Fahrgemeinschaften.

„Im Prinzip ist es egal, wo Du auf Baustelle bist“, sagt Weilharter bei der holprigen Fahrt durch das Tunnelsystem. „Du bist zehn Tage da, dann fährst du heim. Ob das dann 200 oder 500 Kilometer sind, macht keinen Unterschied.“ Auf ihn warten seine Frau und die beiden erwachsenen Söhne. „Fünf Tage lang steht die Familie an erster Stelle, dann wieder zehn Tage lang die Arbeit“, beschreibt der 57-Jährige den Rhythmus. Nicht jede Ehe übersteht das. Im Sportverein oder anderswo aktiv zu sein, ist kaum möglich. Und wenn in der fünftägigen Freizeit kein Wochenende dabei ist, sind die Freunde und Bekannten bei der Arbeit.

Im Tunnel arbeiten zwei Männer auf einer Hebebühne. Von oben bröckelt Gestein auf die Schutzhelme. Sie schauen nicht einmal auf. Weilharter war schon einmal nach einem Knöchelbruch für drei Monate außer Gefecht. „Früher bestand die Hauptgefahr in herabfallenden Teilen. Heute haben sich die Methoden geändert. Da gehen meist Maschinen in den unmittelbaren Gefahrenbereich. Wenn bei uns etwas passiert, handelt es sich meist um Verkehrsunfälle mit den Maschinen“, weiß der Bauleiter.

Arbeiten, wo noch keiner zuvor war

Trotz aller Härten lieben die Männer ihren Beruf. „Entweder man ist Tunnelbauer oder man ist keiner“, sagt Weilharter. Das sei eine Einstellungssache. Ihn fasziniert immer noch, dass man jeden Tag dort arbeite, wo noch nie zuvor ein Mensch gewesen ist. Im Moment, als er das sagt, ist das irgendwo unter dem Nordbahnhofsgelände. Ein Argument sei auch der Verdienst, der zwar inzwischen nachgelassen habe, aber immer noch gut sei: „Auch daran gewöhnt man sich natürlich“, räumt er ein. Und sagt geradezu feierlich einen Satz, der einen harten Kontrast zur staubigen Umgebung, den schmucklosen Containern und der schweren Arbeit bildet: „Tunnelbau ist wie Grippe. Man hat einen Virus, und den wird man einfach nicht mehr los.“

Allerdings ist die Ansteckungsgefahr beileibe nicht mehr so hoch wie früher. In der Vergangenheit, erzählt der Bauleiter, während er den Aufzug nach oben in Bewegung setzt, seien ganze Mineurstrupps aus einzelnen österreichischen Tälern und Ortschaften gekommen. Heute dagegen fehlt dort wie in Deutschland der Nachwuchs. Das zeigen auch die vielen osteuropäischen Nummernschilder auf dem Parkplatz vor dem Containerdorf. Die schlechtere Bezahlung spielt dabei eine Rolle, aber auch das harte Leben. „Bei uns kommen kaum noch junge Leute nach, die das machen wollen“, bedauert der 57-Jährige. Stattdessen gehe die Tradition nach und nach verloren, das Wissen wandere zu den Subunternehmen aus anderen Ländern mit niedrigerem Lohnniveau: „Wir verkaufen unser Know-how.“

Endstation vor den simplen weißen Containern. Seit wann Weilharter schon auf der Stuttgart-21-Baustelle arbeitet? „Seit März 2013, eigentlich schon viel zu lang. Ich brauche mal wieder was Neues“, sagt er und lacht. Denn er weiß genau, dass er hier noch mindestens drei Jahre lang gebraucht wird. „Es macht Spaß, das ist eine schöne Baustelle“, ergänzt er. Eine Herausforderung und eine besondere Aufgabe selbst für einen so weit gereisten Tunnelbauer. Also wird er weiter unter Tage arbeiten und alle zehn Tage ins Auto steigen. Nach Hause fahren in die Steiermark, „das Herz Europas“, wie er lachend anmerkt. So hatte die Bahn auch mal den neuen Stuttgarter Tiefbahnhof mit seinen Tunneln genannt. Für die Mineure sind sie schlicht ein Arbeitsplatz auf Zeit.