Die Linken-Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen hält bei der Tätigkeit des türkischen Geheimdienstes MIT in Deutschland nichts von falscher Rücksichtnahme auf den Nato-Partner Türkei. Foto: dpa

Die Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen sieht die Sicherheit der deutschen Bevölkerung gefährdet: Erdogan-Kritiker würden ausspioniert, eingeschüchtert und bedroht.

Stuttgart - In Deutschland tummeln sich nach Einschätzung von Geheimdienstexperten bis zu 6000 Spitzel und Agenten des türkischen Nachrichtendienstes MIT. Eine Zahl, die die Bundesregierung in einer Antwort auf die Kleine Anfrage der Bundestagsabgeordneten Sevim Dagdelen (Linke) nicht bestätigen will – aber auch nicht dementiert. „Entweder ist die deutsche Spionageabwehr derart schlecht aufgestellt, dass man von einem Totalversagen sprechen muss. Oder das Verschweigen hat System, um die Beziehungen zur Türkei nicht weiter zu gefährden“, zürnt Dagdelen, die unter anderem im Auswärtigen Ausschuss des Bundestages arbeitet.

 

Der MIT operiert in Deutschland nach Einschätzung des Geheimdienstexperten Erich Schmidt-Eenboom vor allem in drei Bereichen: Hauptziel des MIT sei es zum einen, regierungskritische Migranten mit türkischen Wurzeln sowie aus der Türkei stammende Kurden auszuspionieren. Zum zweiten agitiere der MIT über regierungsnahe türkische Lobbyorganisationen wie der Union der Europäisch-Türkischen Demokraten (UETD) in Deutschland gezielt gegen Kritiker des türkischen Präsidenten Recep Tayyib Erdogan. Dazu zählen auch deutsche Politiker wie Dagdelen oder Grünen-Chef Cem Özdemir.

Zum dritten, ist Schmidt-Eenboom überzeugt, baue der MIT mit Gruppierungen wie der rockerähnlichen Gruppe „Osmanen Germania BC“ einen bewaffneten Arm der türkischen Regierungspartei AKP in Deutschland auf. In diesem Frühjahr berichteten Reporter unserer Zeitung nach monatelangen Recherchen über ein in Baden-Württemberg agierendes Netz aus AKP-Politikern, MIT-Agenten, Islamisten, Osmanen und UETD-Lobbyisten.

Verfassungsschutz beobachtet verstärkt

Verbindungen, die Dagdelen scharf kritisiert: „Unter den Augen deutscher Geheimdienste wurde eine fünfte Kolonne des autokratischen Erdogan-Regimes in Deutschland gebildet. Es kann nicht sein, dass diejenigen, die Erdogan und dem AKP-Regime irgendwie missliebig sind, wie Unterstützer der Armenienresolution des Bundestages, hier von der Türkei ausspioniert, eingeschüchtert und bedroht werden.“

Zudem scheinen türkische Agenten die deutschen Nachrichtendienste unterwandern zu wollen. Im Sommer hatte die Tageszeitung „Die Welt“ berichtet, der MIT versuche gezielt, Spitzel im Verfassungsschutz zu platzieren. Den Agentenjägern des BfV waren bei der routinemäßigen Überprüfung seiner Bewerber die türkischen Spione aufgefallen.

In seiner Antwort an Dagdelen gibt sich das zuständige Innenministerium Thomas de Maizières (CDU) schmallippig: Es stuft seine Antwort auf die Frage nach der Unterwanderung der deutschen Nachrichtendienste als vertraulich ein.

Dafür aber – so räumen die Ministerialen ein – setzt das BfV „seine verstärkte Bearbeitung des türkischen Nachrichtendienstes im Rahmen der sogenannten 360 Grad-Bearbeitung“ fort. Die Inlandsgeheimdienstler gingen „allen Hinweisen auf eine statuswidrige Tätigkeit“ des MIT unvermindert nach.

„Erdogans Spitzelnetzwerk zerschlagen“

Eine Aussage, die Dagdelen befremdet. Denn: „Das ist schizophren. Einerseits teilt Deutschland mit dem Nato-Mitglied auch seine nachrichtendienstlich gewonnene Erkenntnisse. Andererseits verstärken deutsche Spione ihre Aktivitäten gegen ihre türkischen Kollegen.“ Die groß angekündigte Neuausrichtung der deutschen Türkeipolitik müsse endlich innenpolitische Konsequenzen haben, da die Sicherheit der Bevölkerung weiter aufs Spiel gesetzt werde, sagt die Parlamentarierin. Und fordert: „Das Spitzel-Netzwerk des türkischen Präsidenten Erdogan in Deutschland muss dringend zerschlagen werden.“

Drei Mal so viele Ermittlungsverfahren gegen mutmaßliche türkische Agenten und ihre Informanten in Deutschland hat Generalbundesanwalt Peter Frank in den vergangenen fünf Jahren einleiten lassen. Bis zum 31. August folgten Fahnder in elf neuen Verfahren den Spuren der türkischen Schlapphüte. Insgesamt 19 Verfahren wegen des Verdachts der Agententätigkeit mit MIT-Bezug sind jetzt beim deutschen Chefankläger anhängig. Jedes vierte der 75, die derzeit überhaupt in Deutschland gegen ausländische Spione geführt werden. Dagdelen kommentiert: „Ich fürchte, das ist nur die Spitze des Eisbergs, trotz der steigenden Zahl von Ermittlungen. Denn es ist davon auszugehen, dass der Generalbundesanwalt, wie im Fall der NSA, aus Rücksichtnahme gegenüber einem Nato-Partner in vielen Fällen gar nicht ermittelt.“