„Cumhuriyet“ gilt als die einzig verbliebene unabhängige Zeitung in der Türkei. Nun haben bei einer Art Putsch stramme türkische Nationalisten und Kemalisten die Führung des Blatts übernommen. Damit würden nun mehr als 95 Prozent der Medien des Landes von der Regierung kontrolliert, sagen Beobachter.
Istanbul - Überrascht sei er nicht, nur unendlich müde, sagt Aydin Engin, 77-jähriger Veteran des türkischen Journalismus. Seit Wochen hatte er das Verhängnis kommen sehen. Am Freitag dann war es soweit: „Cumhuriyet“ (Republik), die traditionsreichste Zeitung und letzte Bastion des unabhängigen Journalismus in der Türkei, wurde in einer putschartigen Operation von Gegnern einer kritischen Berichterstattung übernommen. Hinter dem Coup stehe die Regierung des Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan, sagt Aydin. „Er hat vor vier Jahren geschworen, dass er sich an ,Cumhuriyet’ rächen würde. Jetzt hat er es mit einer mächtigen Koalition aus Ultranationalisten und der Justiz geschafft, unsere Zeitung mundtot zu machen.“
Kurz nach der Neuwahl des Vorstands der für die Herausgabe verantwortlichen Cumhuriyet-Stiftung entließ das neue Management aus Extrem-Nationalisten und Kemalisten am Freitag den Chefredakteur Murat Sabuncu und dessen drei wichtigste Mitarbeiter. Daraufhin reichten mehr als zwanzig Journalisten ihre Kündigung ein. Bis zum Montag verließen etwa die Hälfte der rund sechzig Redakteure und Kolumnisten das Traditionsblatt, darunter die prominenten Publizisten Cigdem Toker, Hakan Kara, Asli Aydintasbas und der berühmte Karikaturist Musa Kart. „Die besten Kollegen haben ihren Rücktritt erklärt“, sagt Aydin Engin, der ebenfalls ging. „Das ist der Schlussstrich für den unabhängigen Journalismus in der Türkei.“
Can Dündar gelang es, das Blatt zu modernisieren
Die Zeitung „Cumhuriyet“ wurde 1924, kurz nach der Entstehung der türkischen Republik, vom Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk ins Leben gerufen. Sie galt stets als Hochburg der Kemalisten, der Anhänger von Atatürks nationalistischer und gegen Minderheiten gerichteter Staatsideologie. Zwar versuchten Dissidenten mehrfach, sie auf die Spur eines moderneren, an westlichen Vorbildern orientierten Journalismus zu lenken. Doch bei internen Richtungskämpfen 1991 und 2002 obsiegten stets die Traditions-Kemalisten. Den letzten Versuch eines modernen Revirements unternahm der 2014 berufene neue Chefredakteur Can Dündar. Der Stiftungsvorstand hatte ihn angestellt, um den bedrohlichen Auflagenrückgang auf nur noch 50 000 Exemplare zu stoppen. Dündar holte junge Investigativjournalisten und Reporter ins Blatt. Plötzlich druckte „Cumhuriyet“ tief recherchierte Artikel über staatliche Korruption oder Umweltverbrechen. Vor allem aber änderte Dündar den Stil der Berichterstattung über die Kurden und andere Minderheiten, hin zu einer realistischen Darstellung der Konflikte. „Cumhuriyet“ erhielt dafür zahlreiche internationale Auszeichnungen, etwa 2016 den alternativen Nobelpreis.
Nicht nur bei Kemalisten, auch bei der AKP-Regierung machte sich die Zeitung damit keine Freunde. Als sie kurz vor den Parlamentswahlen im Juni 2015 über einen Waffentransport des MIT an syrische Islamisten berichtete, bekam Erdogan einen Tobsuchtsanfall. Er nannte Dündar live im Fernsehen einen Terroristen und schwor, ihn ins Gefängnis zu bringen. Der Chefredakteur wurde wegen „Spionage“ und „Terrorismus“ angeklagt und drei Monate inhaftiert, bevor er nach Berlin flüchtete, wo er seither lebt. „Erdogan aber reichte das nicht. Hinter der Bühne ging es ihm weiter darum, ,Cumhuriyet’ zum Schweigen zu bringen“, sagt Aydin Engin. Der Chefredakteur Sabuncu und 16 weitere Mitarbeiter wurden nach dem Putschversuch von 2016 wegen angeblicher „Terrorpropaganda“ verhaftet, saßen bis zu anderthalb Jahre in Untersuchungshaft; Sabuncu, Engin und zwölf weitere wurden im April zu teils langen Haftstrafen verurteilt. „Bis zum Berufungsprozess wurden sie auf freien Fuß gesetzt und arbeiteten wieder“, sagt Engin. „Damit war Erdogans Versuch vorerst gescheitert. Doch er setzte gleichzeitig auf eine andere Schiene – die Übernahme der Stiftung.“
Die Cumhuriyet-Stiftung ist eine eigenartige Konstruktion. Die zwölf Vorstandsmitglieder ergänzen das Gremium beim Tod oder Rücktritt von Mitgliedern durch Kooptation. Im Vorstand stehen sich Reformer und nationalistische Kemalisten verbissen gegenüber. Bei der Wahl Can Dündars als Chefredakteur 2014 waren nach Angaben Engins zuvor zwei Nationalisten gestorben und zwei weitere zurückgetreten. „Daraufhin hatten die Reformer die Mehrheit“, sagt Aydin Engin. „Das hat die Gegenseite nie akzeptiert.“ Es folgte ein jahrelanger Gerichtsstreit, bei dem sich die Unterlegenen mithilfe der von Erdogan gelenkten Justiz schließlich durchsetzten und jetzt Neuwahlen erzwangen, die sie gewannen.
Ultra-Kemalisten haben Grund zum Feiern
Bereits im „Cumhuriyet“-Prozess waren vier kemalistische Mitglieder des Stiftungsvorstands als Zeugen der Anklage aufgetreten und hatten behauptet, dass die Redaktion die „Traditionslinie“ kriminell verfälscht und sich vom Kemalismus abgekehrt habe – ein groteskes Argument, das sich das Gericht gleichwohl zu eigen machte. Am Freitag wurde nun der 84-jährige Prozess-„Kronzeuge“ Alev Coskun zum neuen Chef des Stiftungsrats gewählt, Vorstandsmitglied Aykut Kücükkaya zum neuen Chefredakteur bestimmt. Für Ultra-Kemalisten ein Grund zum Feiern. „Nun haben wir einen Grund, jeden Morgen mit Hoffnung aufzuwachen“, sagte Metin Feyzioglu, der Vorsitzende der Türkischen Anwaltsvereinigung.
Der Abschiedsartikel des Chefredakteurs Murat Sabuncu wurde am Sonnabend von der „Cumhuriyet“-Webseite entfernt, andere Kolumnen nicht mehr gedruckt. Yavuz Baydar, im Pariser Exil lebender früherer „Cumhuriyet“-Journalist und Chefredakteur der türkischen Internet-Nachrichtenseite Ahvalnews, hat einen ähnlichen Konflikt 1991 in der Redaktion miterlebt. „Leider hat sich der Türkei-typische Tribalismus wieder durchgesetzt. Die Sieger wollen ihren kleinen Mikrokosmos ,Cumhuriyet’ regieren“, sagt er. „Dass sie damit die Vielfalt von Meinungen zerstören, ist ihnen egal.“ Mehr als 95 Prozent der Medien würden jetzt von der Regierung kontrolliert, der Journalismus in der Türkei liege „auf dem Totenbett“. In seinem Abschiedswort schrieb Chefredakteur Murat Sabuncu, der 17 Monate für seine Arbeit im Gefängnis saß, das Engagement für das Blatt habe ihn immer „mit Stolz“ erfüllt. Deshalb werde niemand „ein böses Wort“ von ihm über „Cumhuriyet“ hören.