Die Professorin Füsun Üstel muss 11 von 15 Monaten absitzen. Foto: privat

Die türkische Politikwissenschaftlerin Füsun Üstel muss wegen „Terrorpropaganda“ ein Jahr ins Gefängnis.

Istanbul - Zum Adieu kamen Politiker, Kollegen und ihre Studenten. Mit einer Kundgebung vor dem Istanbuler Justizpalast ist die Politikwissenschaftlerin Füsun Üstel diese Woche verabschiedet worden – ins Gefängnis. Als erste von mehr als 2000 Akademikern, die einen regierungskritischen Appell zur Kurdenpolitik unterzeichnet haben, musste Üstel jetzt eine Haftstrafe antreten. Knapp ein Jahr wird die emeritierte Professorin der angesehenen Galatasaray-Universität voraussichtlich im Gefängnis im westtürkischen Eskisehir bleiben. Weitere Kollegen könnten ihr bald folgen, denn die türkische Justiz verfolgt die kritischen Akademiker als Terrorhelfer. Viele von ihnen wollen deshalb ins Ausland.

Der Friedensappell der Akademiker habe „manche Kreise“ wohl sehr verärgert, sagte Füsun Üstel bei ihrer Verabschiedung. Aber für sie und ihre Gleichgesinnten komme Schweigen nicht infrage: „Wir werden unsere Stimmen erheben“, sagte Üstel nach einem Bericht der Oppositionszeitung „Cumhuriyet“. Im Januar 2016 hatten etwa 1100 Akademiker aus der ganzen Türkei einen Aufruf unterschrieben, der den harten Kurs der Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan in der Kurdenpolitik kritisierte. Damals tobten im Kurdengebiet schwere Gefechte zwischen der türkischen Armee und der kurdischen Terrororganisation PKK. Die Unterzeichner warfen den Sicherheitsbehörden vor, rücksichtlos gegen die Zivilbevölkerung vorzugehen. „Wir werden an diesem Verbrechen nicht teilhaben“, hieß es in dem Appell. Nach der Veröffentlichung schlossen sich weitere tausend Akademiker dem Aufruf an.

Die Welle von Verfahren hat viele Hochschullehrer und Wissenschaftler verunsichert

Kritiker warfen den Unterzeichnern vor, Gewalttaten der PKK in dem Appell ignoriert zu haben, doch Erdogan ging noch wesentlich weiter. Er beschimpfte die Akademiker öffentlich als „Möchtegern-Wissenschaftler“, Landesverräter und Terrorhelfer. Damit war klar, dass die „Akademiker für den Frieden“ einen hohen Preis für ihr Engagement zahlen würden. Mehrere Hundert von ihnen wurden von ihren Hochschulen und Institutionen entlassen und bekamen Todesdrohungen. Da die türkische Justiz häufig nach dem Willen der Regierung handelt, wurden etliche Akademiker vor Gericht gestellt, darunter auch Füsun Üstel.

Knapp 700 „Friedens-Akademiker“ mussten bisher vor Gericht erscheinen. In 185 Fällen ergingen Urteile zu Haftstrafen von 15 bis 36 Monaten Gefängnis wegen der Verbreitung von „Terrorpropaganda“, wie Amnesty International mitteilte. Die anderen Verfahren dauern noch an. Üstel ist die erste Betroffene, die nach dem Scheitern eines Berufungsverfahrens ihre Strafe antreten musste. Laut den türkischen Gesetzen wird sie elf ihrer 15 Monate Haft absitzen müssen.

Die Welle von Verfahren und Urteilen hat viele Hochschullehrer und Wissenschaftler in der Türkei tief verunsichert. Von Willkür spricht einer der Betroffenen, der anonym bleiben will: Niemand wisse, warum manche Unterzeichner vor Gericht kämen und andere nicht, warum manche entlassen würden und andere ihre Stelle behalten könnten, sagt der Soziologe, der zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden ist und seinen Job an einer öffentlichen Universität verloren hat. Er musste seinen Pass abgeben und hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser.

„Ich ertrage diese Unsicherheit einfach nicht mehr“, begründet eine Dozentin an einer renommierten Istanbuler Universität, warum sie ihre feste Stelle dort gekündigt hat, um auf eine befristete Stelle nach Europa zu wechseln. Drei Jahre nach dem Friedensappell ist ihr Prozess noch immer anhängig, der Ausgang völlig ungewiss. Zwar ist es möglich, dass sie mit einer Bewährungsstrafe davonkommt wie bislang schon etliche Unterzeichner. Doch es könnte ihr auch so ergehen wie einigen ihrer engsten Freunden – sie erhielten Haftstrafen von 25 Monaten, die nicht zur Bewährung ausgesetzt werden, und flohen ins Ausland, bevor die Urteile rechtskräftig wurden.