Auch in den sozialen Netzwerken wird heftig diskutiert. Foto: StZ

Mit dem neu aufgeflammten Kurdenkonflikt, besonders aber nach dem Putschversuch in der Türkei sind die Spannungen in der türkischen Community stark gewachsen. Deshalb will die Stadt alle Gruppen an einen Tisch holen.

Stuttgart - Der Termin war unglücklich gewählt. Für den 2. Juni hatte die Stadt türkische Vereine und Organisationen eingeladen, um darüber zu reden, wie künftig ein friedliches Miteinander erreicht werden könnte. Anlass waren die wieder aufgeflammten Konflikte zwischen Türken und Kurden, die sich auch in Stuttgart in gewalttätigen Demonstrationen entladen hatten. Das Erstaunliche an dem geplanten Treffen: alle Gruppen hatten zugesagt.

Nicht nur Kurden und Vereine wie Ditib oder die Türkische Gemeinde, auch die der Gülen-Bewegung nahe stehende Gesellschaft für Dialog sollte dabei sein, selbst so stark umstrittene Gruppen wie Milli Görüs und die Grauen Wölfe. Zuletzt platzte der Termin dann aber doch noch: am 2. Juni hat der Bundestag die Armenien-Resolution verabschiedet.

Mit dem Kurdenkonflikt begann die Eskalation

„Man muss es mit einem Gespräch versuchen, dass alle wieder zur Besinnung kommen“, lobt Gökay Sofuoglu die Initiative der Stadt. Der Bundes- und Landesvorsitzende der pluralistisch gesinnten Türkischen Gemeinde, der in Fellbach lebt, sollte selbst bei dem Treffen dabei sein. Angesichts der Eskalation durch den Kurdenkonflikt und besonders nach dem gescheiterten Putsch brauche man auch in Stuttgart „eine Art runden Tisch, wo man diese Dinge immer wieder reflektieren kann“.

Belege dafür, wie sich die Lage zugespitzt hat, gibt es genug. So stehen in der Landeshauptstadt Institutionen unter Druck, die dem Prediger Fethullah Gülen nahe stehen, den der türkische Präsident Erdogan für den Putsch verantwortlich macht. So haben an der Bad Cannstatter Bil-Schule die Eltern von 30 der 440 Schüler ihre Kinder abgemeldet. Der Verein Self, in dem 150 Selbstständige organisiert sind, verzeichnet mehr als zehn Austritte. Und nach Informationen dieser Zeitung wurde im Zuge der „Säuberungen“ in der Türkei der Stuttgarter Stationsleiter von Turkish Airlines entlassen.

Seit dem Putsch gibt es Aufrufe zur Denunziation

In den sozialen Netzwerken tobt eine verbale Schlacht, die geprägt ist von Verdächtigungen und Denunziation. So kursieren mehrere Listen mit Firmen aus der Region, die Gülen nahe stehen sollen. Auf einer von diesen mit 28  Namen heißt es: „Bitte boykottiert diese Firmen!!!!!“ An anderer Stelle fordert ein Schreiber: „Nennt hier alle Gülen-Anhänger, damit sie nicht in die Türkei einreisen. Nennt ihre Namen dem Konsulat.“ Neben dem türkischen Mondstern in Kleinformat wiederum ist zu lesen: „Die sind wie Krebs. Gefährlicher als die PKK sind die.“ Und weiter heißt es: „Lasst sie nicht in unsere Moscheen.“

Bei den Betroffenen ist das Entsetzen groß. „Wir werden pauschal als Vaterlandsverräter und Terroristen tituliert“, klagt ein Stuttgarter aus dem Kreis der Gülen-Anhänger. „Wir sind sehr angespannt, die psychische Belastung ist enorm.“ Immerhin: Man wisse, wer die Denunzianten sind.

Mehr Anzeigen bei der Staatsanwaltschaft

Die bei der Stuttgarter Staatsanwaltschaft anhängigen Verfahren dieser Art sind seit dem Putschversuch in der Türkei denn auch „stark angestiegen“, sagt Pressestaatsanwalt Jan Holzner: „Im hohen zweistelligen Bereich liegen Anzeigen wegen Beleidigung, Beschimpfung und Bedrohung vor.“ Hauptbetroffene seien Gülen-Anhänger und Aleviten, vor geraumer Zeit seien dies Kurden gewesen.

Als Urheber derartiger Kampagnen nennen Betroffene regelmäßig die hiesigen Vertreter der Union Europäisch-Türkischer Demokraten (UETD), die als Sprachrohr der türkischen AKP gilt. Was die Rolle der Türkisch-Islamische Union Ditib anlangt, gehen die Meinungen auseinander. Während einer aus dem Gülen-Lager die Haltung in Stuttgarts größter Moschee in Feuerbach als „besonnen“ und „relativ zurückhaltend“ einschätzt, sieht ein anderer auch dort Scharfmacher am Werk.

Ditib-Moschee wehrt sich gegen Vorwürfe

Ein Streitpunkt ist die Predigt beim Freitagsgebet nach dem Putsch, die bundesweit und gesteuert von der Religionsbehörde in Ankara in allen Ditib-Moscheen verlesen wurde. Es ist von „Verrat“ an Volk und Religion durch die Putschisten u nd ihre Unterstützer die Rede. Diese verfolgten das Ziel, „Familien und Kinder unter Instrumentalisierung Gottes zu täuschen und damit zu Verwirrung und Aufruhr zu führen“. Für den Gülen-Anhänger ist die Stoßrichtung der Predigt klar: diese ziele trotz ihrer allgemeinen Aussage auch auf Einrichtungen wie die Bil-Schule.

Ismail Cakir, der Vorsitzende der Moscheegemeinde, ist empört. „Wir machen hier keine Unterschiede“, sagt Cakir, dem auch Sofuoglu ein ausgleichendes Wesen attestiert. Die Moschee an der Mauserstraße steht für alle offen, erklärt der Vorsitzende, der immer wieder betont hat, dass er sich aus der türkischen Politik heraushalte. „Wir haben hier friedlich gelebt, und wir werden hier auch weiter friedlich leben“, sagt der 58 Jahre alte Einzelhändler.

Stadt macht einen zweiten Versuch

Nach dem misslungenen ersten Versuch will die der Stadt noch einmal einen Anlauf für ein Treffen der türkischen Gruppen nehmen. Wohl wissend, dass die Verhältnisse nicht einfacher geworden sind. „Nach der Sommerpause gehen wir das noch mal an“, sagt Levent Günes von Abteilung Integration. Er hofft, dass sich bis dahin die Wogen etwas geglättet haben.

Hinweis der Redaktion, hinzugefügt am 15. August 2016:

"Zum besagten Artikel stellt Turkish Airlines Folgendes fest: Die Kündigung des Mitarbeiters seitens Turkish Airlines, die wir ausdrücklich bedauern, erfolgte alleine aus betriebsbedingten Gründen. Die Unterstellung, politische Gründe hätten bei der Personalentscheidung irgendeine Rolle gespielt, ist unwahr. Turkish Airlines ist sich seiner Rolle als Arbeitgeber bewusst und kommt seiner Verantwortung immer mit höchster Sorgfalt nach."

Turkish Airlines Inc., Media Relations; Köln