Ein erschöpfter Bergarbeiter nach der Explosion in der türkischen Kohlegrube Soma. Nun soll die Frage nach der Schuld am Tod der Kumpel bei dem Grubenunglück festgestellt werden. Foto: EPA

Ein Prozess soll das Grubenunglück im türkischen Soma aufklären. Die erste Verhandlung endete bereits kurz nach Beginn – auf die Beteiligten dürfte ein langes Verfahren zukommen.

Istanbul - Wer war verantwortlich für die Katastrophe von Soma? Elf Monate nach dem schlimmsten Bergwerksunglück in der Geschichte der Türkei hat am Montag in Akhisar der Prozess begonnen, in dem der Unfall aufgearbeitet werden soll.

Doch es gibt Zweifel daran, dass die ganze Wahrheit ans Licht kommen wird. Insgesamt 45 Menschen sind angeklagt, neben dem Vorstandsvorsitzenden der Betreibergesellschaft der Zeche, Can Gürkan, sitzen sieben weitere Angeklagte derzeit in Haft.

Ursprünglich sollten die acht Hauptangeklagten nicht im Gerichtssaal erscheinen, sondern per Videoschaltung zugeschaltet werden – aus Sicherheitsgründen, wie es offiziell heißt. Doch angesichts heftiger Proteste von Angehörigen der Opfer zum Prozessauftakt beschlossen die Richter unter dem Beifall der Hinterbliebenen, die acht inhaftierten Angeklagten nun doch beim nächsten Verhandlungstermin an diesem Mittwoch ins Gericht bringen zu lassen.

Staatsanwaltschaft verlangt lebenslange Haft

Ihnen wird unter anderem Totschlag vorgeworfen. Sie sollen Sicherheitsvorkehrungen missachtet und damit das Unglück verschuldet haben. Die Staatsanwaltschaft verlangt lebenslange Haft für die Hauptangeklagten.

Beim dem Unglück kamen am 13. Mai 2014 insgesamt 301 Bergleute ums Leben. Bis heute ist die genaue Unglücksursache unklar. Die Ermittler gehen davon aus, dass ein Defekt in der Elektrik zunächst eine Explosion und dann einen Brand im Stollen ausgelöst hat. Zum Zeitpunkt des Unglücks hatten sich wegen eines Schichtwechsels besonders viele Arbeiter unter Tage aufgehalten.

Die Angehörigen der Opfer fordern Rechenschaft. „Ich will jenen in die Augen schauen, die meinen Mann auf dem Gewissen haben“, sagte die Bergarbeiter-Witwe Naciye Kaya der Zeitung „Birgün“. Sie wolle den Angeklagten entgegenschleudern: „Ihr habt uns zerstört, möge Gott jetzt euch zerstören.“ Beobachter erwarten einen langwierigen Prozess.

Noch immer sterben täglich mehrere Arbeiter

Regierungspolitiker müssen sich bisher nicht wegen des Unglücks verantworten. Dabei hatten Arbeiter in Soma nach dem Unglück von äußerst schlampigen Sicherheitskontrollen durch staatliche Inspektoren berichtet.

Ankara reagierte mit Entschädigungszahlungen an die Familien der Opfer und einer Verringerung der Arbeitszeit im Bergbau. Kürzlich verabschiedete das Parlament zudem ein Gesetz zur Einrichtung von Schutzräumen unter Tage, überließ die Umsetzung der neuen Vorschrift aber der Regierung.

Zwei Monate vor der türkischen Parlamentswahl am 7. Juni nutzte die Opposition die Gelegenheit, sich als Beschützer der Arbeiter zu präsentieren. Der Chef der Kurdenpartei HDP, Selahattin Demirtas, und mehrere Abgeordnete der säkularistischen Oppositionspartei CHP nahmen an der Auftaktsitzung des Prozesses teil.

Verhalten der Regierung sorgte für Empörung

Das rege Interesse der Opposition kommt nicht von ungefähr: Das Verhalten der Regierung unmittelbar nach dem Unglück hatte für Empörung gesorgt. Bis heute ist von Selbstkritik nichts zu spüren: Die für die Arbeitssicherheit und den Bergbau zuständigen Minister für Arbeit und Energie blieben trotz der Katastrophe von Soma im Amt.

Vor Beginn der Verhandlung hatte die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch gefordert, dass die Rolle der Regierung bei dem Unglück untersucht werden müsse. Bislang habe die Regierung den Chefanklägern die Erlaubnis vorenthalten, Verfahren gegen staatliche Mitarbeiter zu eröffnen, sagte Türkei-Expertin Emma Sinclair Webb. Den Staatsanwälten werde bei den Untersuchungen keine freie Hand gelassen, kritisierte sie.

Auch kann keine Rede davon sein, dass der Schock nach dem Unglück zu verbesserter Arbeitssicherheit für Beschäftigte im Bergbau, in den Werften oder im Baugewerbe geführt hätte. Immer noch sterben in der Türkei mehr Arbeiter als irgendwo sonst in Europa. Allein im März wurden fast 140 Arbeiter getötet, im vergangenen Jahr zählte die Regierung 1570 Tote bei Arbeitsunfällen – das sind mehr als vier Todesopfer pro Tag.

Hintergrund: Die erwartbare Tragödie

Hintergrund: Die erwartbare Tragödie

Immer wieder hatten Experten auf gravierende Sicherheitsmängel im Bergwerk von Soma hingewiesen, doch es geschah nichts. Stattdessen brüstete sich der Chef der Soma Holding, Can Bürkan, 2012 in einem Interview damit, die Produktionskosten für eine Tonne Kohle von 130 Dollar auf 24 Dollar gedrückt zu haben. Nach Angaben der Betreibergesellschaft hatten die Behörden bei der letzten Prüfung im März 2014 keine Unregelmäßigkeiten in Soma festgestellt.

Die Regierung wies jede Verantwortung für das Unglück von sich – dabei hatte die regierende AKP wenige Wochen vor dem Unglück einen Antrag der Opposition abgeschmettert, die Sicherheitslage in der Mine zu überprüfen. Der damalige Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan erklärte nach der Tragödie lapidar: „Solche Unfälle passieren ständig.“ Einer seiner Berater trat in Soma auf einen Demonstranten ein, Erdogan soll einen Bergmann geohrfeigt haben.

Nach der Katastrophe gab es in zahlreichen türkischen Städten – darunter auch in Istanbul und Ankara – wütende Proteste. Tausende Demonstranten forderten den Rücktritt der Regierung. Erdogan wurde als Mörder beschimpft. Die türkische Polizei reagierte darauf mit dem Einsatz von Tränengas, Gummigeschossen und Wasserwerfern. Erdogan bezichtigte „illegale Kreise“, die gewaltsamen Proteste in Istanbul angezettelt zu haben.