Ein türkischer Jubelcorso wie hier in Berlin ist in Stuttgart mangels Teilnehmer ausgefallen. Foto: Getty Images Europe

In Württemberg haben 66,3 Prozent der Deutschtürken für Erdogans Verfassungsänderung gestimmt. Nach dem hitzigen Wahlkampf wollen die Türken in Stuttgart jetzt wieder zur üblichen Tagsordnung übergehen.

Stuttgart - Auf einer der Baken an der Mauserstraße in Feuerbach hängen gleich drei „Evet“-Aufkleber und werben für ein Ja. Viel mehr erinnert in dem „Klein-Instanbul“ genannten Viertel nicht an den auch hierzulande hitzig geführten Wahlkampf zum Türkeinreferendum. Es ist ausgesprochen ruhig hier.

„Das Volk hat entschieden, das zählt“, sagt ein 29-Jähriger aus Bad Cannstatt. Auch wenn er mit Nein gestimmt hat, ist für ihn das Thema jetzt durch. „Das ist wie im Fußball: Am Schluss hat eine Mannschaft gewonnen – selbst wenn es ein Abseitstor war“, sagt der 29-Jährige lachend.

Viele Anhänger Erdogans in Württemberg

Ähnlich nüchtern sehen es viele hier an diesem kühlen Ostermontagmorgen. Im Württemberg umfassenden Bezirk Stuttgart haben sogar 66,3 Prozent für Erdogans Verfassungsreform gestimmt.

Osman Gürel findet das gut. „Man muss mal was Neues wagen“, sagt der 46-Jährige, der in Neckarsulm ein Ingenieurbüro hat. In Ländern wie der Türkei brauche es einen „starken Mann, der entscheiden kann“, sagt er, das sei mit Deutschland nicht vergleichbar. Gürel hat nicht gewählt, er hat nur einen deutschen Pass. Der 46-Jährige ist überzeugt, dass sich der Streit in der türkischen Community bald legt. Geärgert hat ihn, der sich selbst als „Musterdeutschen“ bezeichnet, dass Ja-Befürworter „als dumm hingestellt wurden“.

Reaktion auf Diskriminierung

Die Motive im Ja-Lager sind unterschiedlich. Ein 17-Jähriger aus Bad Cannstatt, der Erdogans Politik gut findet, hatte den Eindruck in den vergangenen Wochen, dass die Deutschen „gegen die Türken sind“. Dieses Gefühl habe er schon seit längerem, sagt der junge Deutschtürke, der in einem Malerbetrieb arbeitet. Manche Leute seien offen „türkeifeindlich – zum Teil gibt es noch richtige Nazis“.

Taylan Özdemir sieht in dem Ergebnis eine „Trotzreaktion“ auch gegen die in Deutschland vorherrschende Ablehnung der Verfassungsreform in der Türkei. Der 43 Jahre alte Unternehmer, der nur einen deutschen Pass besitzt, sieht das Nein-Lager „strukturell im Nachteil“. Viele, die die Dinge „neutral sehen“, hätten wie er ihren alten Pass abgegeben. Taylan Özdemir glaubt aber , dass sich die Stimmung in der türkischen Community normalisieren wird: „Die kommen alle wieder runter.“

Kritik an „einseitigem Wahlkampf“

Auch ein 36 Jahre alter Jeside, der nur einen deutschen Pass hat und die Unterdrückung seiner Glaubensbrüder in der Türkei beklagt, erzählt von guten Kontakten mit türkischen Kollegen. „Politik und Kultur sind zwei Paar Stiefel.“ Ein bei der Polizei gemeldeter Jubelcorso jedenfalls wurde mangels Teilnehmern abgeblasen.

Gökay Sofuoglu, Landesvorsitzender der Türkischen Gemeinde Baden-Württembergs und einer der Exponenten des Nein-Lagers, beklagt den „einseitigen Wahlkampf“, den Erdogan geführt habe. Er sieht das Ergebnis aber auch als eine Folge von Diskriminierung und Rassismus im deutschen Alltag. Statt sich darum zu kümmern, hätten viele Deutschtürken gesagt, mischten sich die Deutschen in den türkischen Wahlkampf ein. „Erdogan hat die Europäer in die Falle gelockt und sie zum Feindbild gemacht“, sagt Sofuoglu über dessen erfolgreiche Strategie.