Ein Jahr nach dem Putsch in der Türkei: Kritik an der zunehmenden Willkür wehren Staatschef Recep Tayyip Erdogan und seine Anhänger mit dem Hinweis auf das demokratische Mandat des ersten direkt gewählten Präsidenten des Landes ab. Foto: dpa

Klar ist: Ein Zukunftsmodell für die Türkei ist das System Erdogan nicht. Es ist auf Sand gebaut. Warum viele Menschen dort auf ein Signal des Aufbruchs warten, erklärt unsere Kommentatorin Susanne Güsten.

Ankara - Ein Jahr nach dem Putschversuch in der Türkei sieht auf den ersten Blick alles nach einer dauerhaften Zementierung der Macht von Präsident Recep Tayyip Erdogan und dessen Regierungspartei AKP aus. Doch der Eindruck täuscht. Erdogans Türkei gleicht immer mehr einer nahöstlichen Despotie, die ohne den Mann an der Spitze nicht existieren kann. Sein Land und er selbst sind isoliert.

Die Kernbestandteile jeder Demokratie – der freie Wettstreit der Ideen und die wirksame Kontrolle der Macht – sind in der Türkei außer Kraft gesetzt. Seit dem Umsturzversuch vom 15. Juli 2016 werden alle Befugnisse auf die Person Erdogans konzentriert. Er ist Oberbefehlshaber der Armee, Chef der Regierung, Vorsitzender der Regierungspartei und gebärdet sich außerdem als oberster Richter. Kritik an der zunehmenden Willkür wehren der Staatschef und seine Anhänger mit dem Hinweis auf das demokratische Mandat des ersten direkt gewählten Präsidenten des Landes ab. Die beim umstrittenen Referendum im April beschlossene Einführung des Präsidialsystems sei nötig, um Reibungsverluste zwischen Parlament und Staatschef zu beseitigen.

Druck auf Andersdenkende

Doch in Wirklichkeit geht es nur um die Macht des Präsidenten. So ist im System Erdogan keine geordnete Machtübergabe auf eine andere Person vorgesehen: Die AKP hat das Präsidialsystem mit den starken Machtbefugnissen für Erdogan nur deshalb durchgesetzt, weil sie sicher ist, dass er die Präsidentenwahl in zwei Jahren gewinnen wird. Der geordnete Übergang der Regierungsmacht von einer Partei auf die andere ist ohnehin kein Bestandteil von Erdogans System, weil eine solche Stabübergabe das Ende dieses Systems bedeuten würde. Der Druck auf Andersdenkende und die Benachteiligung der Opposition im Parlament und im Wahlkampf werden damit zu unverzichtbaren Bestandteilen der Politik. Für eine Karriere als Beamter, Richter oder Akademiker sind enge Verbindungen zur AKP wichtiger als Sachkenntnisse.

Doch das System Erdogan bringt keine Stabilität, es ist auf Sand gebaut. Hochbegabte Experten verlassen das Land, weil sie keine Perspektive für sich sehen oder die Verhaftung befürchten. International hat Erdogan die Türkei ins Abseits geführt. Mit den Europäern hat er sich dermaßen überworfen, dass sie Kontakte zu ihm und seinen Ministern auf ein Minimum reduzieren. Beim G20-Gipfel in Hamburg sah er sich Fragen nach der Inhaftierung von Menschenrechtlern und Journalisten ausgesetzt. Auch mit den USA gibt es Streit, und Russland ist kein verlässlicher Partner. Im Nahen Osten legt sich der Präsident in der Katar-Krise mit der sunnitischen Führungsmacht Saudi-Arabien an.

Auf Dauer ist der Präsident zum Scheitern verurteilt

Der Protestmarsch der Opposition hat gezeigt, dass viele Menschen im Land auf ein Signal des Aufbruchs warten. Selbst unter den undemokratischen Bedingungen des Referendums vom April stimmten rund 49 Prozent der Türken gegen Erdogan. Die Massenentlassungen und die Inhaftierung von über 50 000 Menschen sind Zeichen von Schwäche und Furcht. Erdogan kann nicht mehr zurück. Ein Kurswechsel hin zu Reform und Rechtsstaat würde seine persönliche Macht untergraben. So ist er dazu verdammt, die Rechte seiner Bürger immer weiter einzuschränken, bei jedem Rückschlag neue innere und äußere Feinde als Sündenböcke zu nennen und die Staatsgeschäfte immer stärker an sich zu ziehen. Das kann für ihn eine ganze Weile lang gutgehen, doch auf Dauer ist der Präsident zum Scheitern verurteilt: Sein ganzes Streben gilt ausschließlich der Erhaltung der eigenen Macht. Ein Zukunftsmodell für die Türkei ist das System Erdogan nicht.

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