International gibt sich der türkische Präsident Erdogan (rechts) gern als Vermittler, wie jüngst beim Treffen mit dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj. In der Türkei agiert er zunehmend diktatorisch. Foto: dpa/Yavuz Ozden

Die türkische Regierung beansprucht die Deutungshoheit über den Islam. Viele Theologen und Gläubige sind empört.

In einem Gesetzespaket versteckt und bei Nacht durch das türkische Parlament gepeitscht, hat das Regierungsbündnis von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan die Deutungshoheit über den Islam an sich gerissen. Nach dem neuen Gesetz kann das staatliche Religionsamt nun alle türkischen Koran-Ausgaben verbieten, beschlagnahmen und vernichten lassen, die nicht seiner konservativen und orthodoxen Auslegung entsprechen.

 

Das Amt will damit kritische Theologen zensieren, die für eine historische Einordnung der heiligen Schrift des Islam plädieren. Als „Inquisition“ und „religiöse Diktatur“ bezeichnen Kritiker das neue Gesetz.

„Wie vernichtet man Bücher? Man verbrennt sie“

„Dieses Gesetz soll Theologen und Akademiker einschüchtern, die andere Interpretationen des Islam vertreten“, warnte der Abgeordnete Okan Konuralp von der säkularistischen Oppositionspartei CHP zu nächtlicher Stunde das halb leere Parlament. „Über Koran-Auslegungen kann man unterschiedlicher Meinung sein, aber deshalb darf man doch nicht Bücher verbieten und vernichten!“ Der Abgeordnete warnte vergeblich: Mit den Stimmen des Regierungsbündnisses wurde das Gesetz in der Nacht zum vergangenen Freitag vom Parlament verabschiedet.

Das Gesetz gibt dem staatlichen Religionsamt die Befugnis, alle türkischen Koran-Ausgaben und Koran-Kommentare zu prüfen und sie nach Gutdünken beschlagnahmen, einsammeln und vernichten zu lassen; wurden sie online veröffentlicht, dann werden die entsprechenden Internetseiten gesperrt. „Wie vernichtet man Bücher? Man verbrennt sie“, sagte der Journalist Rusen Cakir, der seit mehr als 30 Jahren über das Religionsamt berichtet. „Nun sollen also Koran-Ausgaben verbrannt werden.“ Um bestimmte Koran-Ausgaben lesen zu können, würden die Türken künftig ein VPN einschalten müssen, ein „Virtuelles Privates Netzwerk“ zur Umgehung von Internet-Sperren. „Unglaublich, wie absurd das ist!“

Gesetzliche Grundlage für Zensur

Protest kommt auch aus dem islamisch-konservativen Lager, so von der Zukunftspartei des früheren Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu. „Diese Regierung hat sich tatsächlich entschlossen, mit der Verbrennung von Koran-Ausgaben in die Geschichte einzugehen“, empörte sich deren Vizefraktionschef Selcuk Özdag nach der Verabschiedung. „Sie wollen Werke vernichten, die angeblich nicht den Grundprinzipien des Islam entsprechen, doch was sie unter den Grundprinzipien des Islam verstehen, bestimmen sie selbst.“ Die Regierung gründe damit eine „Staatsreligion“.

Mit dem Gesetz macht die Regierung schon den zweiten Anlauf, um kritische Theologen in der Türkei zu zensieren. Im ersten Anlauf hatte das Religionsamt vor zwei Jahren versucht, eine kommentierte Koran-Übersetzung des bekannten Theologen Ihsan Eliacik zu verbieten, der für eine moderne Auslegung des Koran eintritt. Dagegen hatte sich Eliacik erfolgreich vor Gericht gewehrt: Für eine solche Zensur gebe es keine gesetzliche Grundlage, argumentierten die Richter damals. Jetzt hat die Regierung die gesetzliche Grundlage geschaffen. „Wie kann das Religionsamt beschließen, dass meine Schriften gegen die Grundprinzipien des Islam verstoßen? Wer gibt ihnen dieses Recht?“, empörte sich Eliacik. „Das Religionsamt will sich als Priesterklasse, als Kirchenhierarchie etablieren, und das geht im Islam überhaupt nicht. Nichts und niemand darf im Islam zwischen Gott und den Gläubigen kommen.“ Das Religionsamt gehöre abgeschafft, forderte der Theologe.

Das türkische Religionsamt steht seit Jahrzehnten in der Kritik, weil es sich als Sachwalter der sunnitischen Mehrheit im Land versteht und islamische Minderheiten wie die Alewiten und die Caferi ausgrenzt und zu assimilieren versucht.

Seit Erdogan vor acht Jahren den derzeitigen Vorsitzenden Ali Erbas an die Spitze berief, mache sich das Amt immer breiter in der Gesellschaft, sagt der Journalist Cakir. „Das Religionsamt soll eigentlich nur Dienstleister sein, um Gottesdienste und Pilgerfahrten zu organisieren, aber heute geriert es sich zunehmend als islamischer Vatikan.“