Nach der Wiederwahl von Staatschef Recep Tayyip Erdogan steht die Türkei vor tiefgreifenden Veränderungen – in den nächsten Tagen wird er wichtige Personalentscheidungen treffen. Unterdessen geht die Verhaftungswelle unvermindert weiter.
Istanbul - Die Präsidenten- und Parlamentswahl vom vergangenen Sonntag markiert den Übergang von der parlamentarischen Demokratie zum neuen Präsidialsystem, das die türkischen Wähler bereits im April 2017 in einer Volksabstimmung gebilligt hatten. Es gibt dem Staatsoberhaupt Recep Tayyip Erdogan eine fast unumschränkte Machtfülle. Erdogan wird voraussichtlich am 8. oder 9. Juli seinen Amtseid leisten. Bis dahin muss er wichtige Personalentscheidungen treffen. Es geht um die Neubesetzung von rund 150 Schlüsselposten in der Regierung und der regierenden AKP-Partei. Außerdem wird der Präsident etwa 500 hohe Staatsbeamte neu berufen, wie Provinzgouverneure, Botschafter und Leiter staatlicher Behörden.
Am Freitag tagten in Ankara die obersten Parteigremien unter Vorsitz Erdogans. Er ist künftig Staatsoberhaupt, Regierungschef und Parteivorsitzender in einer Person. Der bisherige Premierminister Binali Yildirim, dessen Amt wegfällt, ist als neuer Parlamentspräsident im Gespräch. Bei Personalentscheidungen hat Erdogan völlig freie Hand. Das Parlament darf bei der Berufung und Entlassung von Ministern nicht mehr mitwirken.
Erdogan braucht den Ausnahmezustand nicht mehr
Mit besonderer Spannung erwartet man nun die Ernennung der mindestens drei künftigen Vizepräsidenten. Erdogan dürfte diese wichtigen Posten mit Leuten seines absoluten Vertrauens besetzen. Schon vor der Wahl hatte Erdogan angekündigt, dass er die Zahl der Ministerien von 21 auf 16 reduzieren will. So sollen die Zuständigkeiten für die Wirtschafts- und Finanzpolitik, die bisher bei sechs Ministern lagen, in drei Ressorts gebündelt werden.
In diesem Zusammenhang fällt immer wieder der Name Mehmet Simsek. Der frühere Investmentbanker war zuletzt als Vizepremier für die Koordination der Wirtschafts- und Finanzpolitik zuständig. Er genießt das Vertrauen der Finanzmärkte. Am Donnerstag hatte Erdogan den Vorsitzenden der ultra-rechten Partei MHP, Devlet Bahceli empfangen. Die MHP war in einer „Volksallianz“ mit der AKP zur Wahl angetreten. Medien zufolge einigten sich beide darauf, den seit 2016 nach dem Putschversuch verhängten Ausnahmezustand aufzuheben. Erdogan braucht ihn nicht mehr, weil er unter der neuen Präsidialverfassung größere Vollmachten hat.
Wieder neue Haftbefehle
So kann er künftig ohne Zustimmung des Parlaments Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen. Unter dem Ausnahmezustand mussten die Dekrete nachträglich vom Parlament bestätigt werden. In der neuen, 600 Sitze umfassenden Nationalversammlung verfehlte die AKP mit 295 Mandaten die absolute Mehrheit. Sie ist künftig auf die Unterstützung der 49 MHP-Abgeordneten angewiesen,. Mit gut elf Prozent Stimmenanteil schnitt die MHP bei der Parlamentswahl unerwartet stark ab. Unterdessen werden die „Säuberungen“, mit denen Erdogan seit dem Putschversuch gegen seine Gegner vorgeht, unvermindert fortgesetzt.
Am Freitag erließ die Staatsanwaltschaft Ankara Haftbefehle gegen 48 ehemalige Polizisten. Es soll sich um mutmaßliche Anhänger des Exil-Predigers Fethullah Gülen handeln, den Erdogan als Drahtzieher des Putschversuchs beschuldigt. Ebenfalls am Freitag nahm die Polizei in Istanbul den bekannten Politiker Eren Erdem fest, einen Funktionär der größten Oppositionspartei CHP. Gegen ihn werde wegen seiner früheren Tätigkeit als Chefredakteur einer regierungskritischen Zeitung ermittelt.