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Ein gleichberechtigtes Miteinander - so wünschen sich die Grünen das Verhältnis von Fußgängern und Autofahrern. In der Tübinger Straße soll jetzt Ernst gemacht werden mit dem sogenannten Shared-Space-Konzept.

Stuttgart - Kein ständiger Kampf David gegen Goliath, sondern ein gleichberechtigtes Miteinander - so wünschen sich die Grünen das Verhältnis von Fußgängern und Autofahrern. Zwischen Wilhelmsplatz und Rotebühlplatz sowie in der Tübinger Straße soll jetzt Ernst gemacht werden mit dem sogenannten Shared-Space-Konzept.

Wenn im Rathaus über die städtebauliche Weiterentwicklung der City diskutiert wird, spielt die Tübinger Straße derzeit eine wichtige Rolle. An der Verbindungsachse zwischen Zentrum und Stuttgart-Süd sind gleich zwei große Bauvorhaben geplant: ein moderner Bürokomplex anstelle des Waschbetonbaus der Württembergischen Gemeindeversicherung (WGV) und das Einzelhandelszentrum Quartier S. Die bauliche Umgestaltung wollen die Grünen mit einem neuen Verkehrskonzept, dem sogenannten Shared Space, verbinden.

Grünen-Stadtrat Michael Kienzle stieß darauf in Holland. Dort hatte der Verkehrsplaner Hans Monderman vor wenigen Jahren die Idee vom gemeinsam genutzten Straßenraum entwickelt: Im Shared Space, so der geschützte Begriff dafür, sollen sich alle Verkehrsteilnehmer gleichberechtigt und ohne Ampeln und Verkehrszeichen zurechtfinden können.

Grünen schwebt andere Verkehrskultur vor

Bei der Vorberatung des Stadthaushalts 2010/2011, der am Freitag verabschiedet werden soll, zeichneten sich dafür erhebliche Fortschritte ab. In der Tübinger Straße soll das Konzept mit einem Aufwand von 1,2 Millionen Euro realisiert werden. Mehr noch: Die Querspange zwischen Wilhelmsplatz und Rotebühlplatz soll für rund drei Millionen Euro umgebaut werden.

Dafür möchten die Grünen 1,1 Millionen Euro einsetzen, die im alten Haushalt für die Umgestaltung des Wilhelmsplatzes reserviert sind. Ein Umstand könnte noch einen Strich durch diese Rechnung machen: Mit allen in den Vorberatungen beschlossenen Wünschen wäre der Haushalt nicht mehr genehmigungsfähig. Diverse Projekte müssen daher erneut auf den Prüfstand gestellt, vertagt oder deren Umsetzung zeitlich gestreckt werden.

Doch gerade in der Tübinger Straße schwebt den Grünen schon länger eine andere Verkehrskultur vor: "Die Tübinger Straße ist derzeit Teil eines Rundkorsos für tiefergelegte Fahrzeuge aus dem Umland", lautet die Analyse von Stadtrat Kienzle. "Straßen müssen aber wieder zu Lebensräumen werden."

Ob das Konzept in großstädtischen Straßen funktionieren könnte, hat auf Anregung des Bezirksbeirats Mitte der städtische Verkehrsplaner Arne Seyboth ausgelotet. Er hat sich mit der sogenannten speziellen Mischverkehrsfläche befasst, wie sie im Amtsdeutsch heißt.

"In Holland gilt das Konzept auch auf Hauptverkehrsstraßen mit 10.000 Fahrzeugen täglich noch als tauglich", berichtet Seyboth. Die täglich von rund 3500 Fahrzeugen befahrene Tübinger Straße könne daher prinzipiell als geeignete Versuchsstrecke betrachtet werden.

Grüne wollen Schilderwald lichten

Unabhängig davon müsse als "zentrales Element eine Verhaltensänderung aller Verkehrsteilnehmer erfolgen". Autofahrer, Radler und Fußgänger müssten gegenseitig Rücksicht nehmen - so wie es die Straßenverkehrsordnung verlange.

Außerdem müsse der Umbau des Straßenraums "selbsterklärend sein". Bei Shared Space brauche es keine Bordsteine. Die Grenze zwischen Fahrbahn und Gehweg werde aufgelöst. "Parken wäre prinzipiell nicht möglich", so Seyboth. Außerdem müsse das Tempo auf 20 Kilometer pro Stunde begrenzt werden.

Nicht zu verwechseln sei das Shared-Space-Konzept mit verkehrsberuhigten Zonen, landläufig als Spielstraßen bezeichnet. "Das sind meist Anwohnerstraßen mit geringem Verkehrsaufkommen, in denen Schrittgeschwindigkeit gilt", beschreibt Seyboth den Unterschied.

Investoren vom Quartier S sollen mit ins Boot

Auch die verkehrsberuhigte Querspange in der City zwischen König- und Marienstraße, in der sich Fußgänger schon heute unbehelligt auf der Fahrbahn bewegen, möchte Seyboth noch nicht als Shared Space bezeichnen. Aber "Querspange und Anfang der Tübinger Straße drängen sich als Shared-Space-Versuchsflächen in Stuttgart auf", so sein Fazit.

Neben mehreren niederländischen Gemeinden, wo das Konzept bereits umgesetzt ist, beteiligt sich in Deutschland Bohmte in Niedersachsen als eine von insgesamt sieben Kommunen an einem Projekt der Europäischen Union. In Baden-Württemberg will das Innenministerium die Idee in Nagold im Ortsteil Hochdorf testen. Ein Zeitpunkt dafür steht aber noch nicht fest.

Das klingt vage, doch der Grünen-Fraktionschef (und Landtagsabgeordnete) Werner Wölfle ist überzeugt, dass die Stadt mit einem großangelegten Modellvorhaben beim Land offene Türen einrennt. Vor einem Dreivierteljahr soll die Stadt regelrecht dazu aufgefordert worden sein, doch das Signal, sagt Wölfle, ging in der Stadtverwaltung unter.

Die Mehrheit im Gemeinderat aus Grünen, SPD und SÖS/Linke wird dies wahrscheinlich möglich machen. Im März hatte der Technik-Ausschuss im Rathaus noch einen Shared-Space-Versuch mit der damaligen bürgerlichen Mehrheit abgelehnt. Unterstützung erhofft sich Grünen-Stadtrat Kienzle noch von anderer Seite: "Wir möchten auch die Investoren vom Quartier S mit ins Boot bekommen, eine Aufwertung des Umfelds ist ja auch in deren Interesse."