Leidenschaftlicher Analytiker an der Seitenlinie: Trainer Julian Nagelsmann von der TSG Hoffenheim Foto: dpa

Julian Nagelsmann steht als Trainer der TSG Hoffenheim ständig unter Strom. Doch nur auf diese Weise entwickelt sich der 31-jährige Fußballlehrer beim nächsten Gegner des VfB Stuttgart immer weiter.

Sinsheim - Wie sehr der Fußballlehrer Julian Nagelsmann (31) bei sich bleibt, zeigt sich vor allem dann, wenn er sich bewegt. Die paar Meter zwischen seinem Sitz auf der Trainerbank und dem Ende der Coachingzone sind sein Revier. Bekäme Nagelsmann während eines Spiels der TSG Hoffenheim Metergeld von seinem Arbeitgeber, der Club wäre aufgrund seines ständigen Hin und Hers bald nah an der Insolvenz. Weil Nagelsmann aber auf solche Spesen eher weniger angewiesen ist, wird er sein Meterabspulen zum Ende seiner letzten Saison im Kraichgau dem Vernehmen nach nicht abrechnen.

Nagelsmann will sich stattdessen teuer verkaufen – er will a „gmahde Wiesn“ hinterlassen, wie sie es in seiner bayerischen Heimat in Landsberg am Lech gerne ausdrücken. Bevor es im Sommer zu RB Leipzig geht, will der Coach seinem Nachfolger in Hoffenheim also ein bestelltes Feld übergeben. Und dafür lässt er die Wiese umpflügen von seinem Team, das stets Gas gibt, ins Risiko geht und immer am Anschlag spielt. Dafür pflügt Nagelsmann seine Coachingzone selbst um. Und bleibt dabei immer Nagelsmann – den Mann, der unter Strom steht.

Rambazamba im Kraichgau

3:3 hieß es am späten Dienstagabend in der Champions League gegen Olympique Lyon, es war ein Spiel ganz nach Nagelsmanns Geschmack, lässt man die drei verheerenden Abwehrfehler bei den Gegentoren und die schwache Chancenverwertung mal außer Acht. Rambazamba spielte sein Team, es war ein Fest, dem Offensivfeuerwerk der TSG zuschauen zu können. Und es ist zumindest aus Hoffenheimer Sicht beruhigend mitanzusehen, wie sehr Nagelsmann diesen Stil weiter vorlebt. Denn wer glaubte, Nagelsmann ende, da sein Abgang schon länger feststeht, als die berühmte „lame duck“, die an Einfluss verliert, der muss den Coach am Rand nur kurz beobachten. Und entdeckt da keine lahme Ente. Sondern weiter einen wilden Tiger, der von seiner Elf auf dem Platz Höchstleistung fordert. Auch an diesem Samstag, wenn es gegen den VfB Stuttgart geht (18.30 Uhr).

Eine knappe Stunde nach dem Schlusspfiff am Dienstagabend ist Nagelsmann auf den ersten Blick zahm. Es geht auf Mitternacht zu, der Coach sitzt auf dem Pressepodium im Scheinwerferlicht. Er selbst spricht nicht grell, er wirkt ruhig, aber das was er sagt, klingt dann doch wieder forsch und laut. Von einer sensationellen Offensivleistung spricht Nagelsmann und davon, wie unglaublich attraktiv das gewesen sei.

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Nagelsmann redet so, wie seine Jungs kicken: Mutig und draufgängerisch. Seine Spieler sollen auf dem Platz immer eine Antwort parat haben – das gleiche gilt offenbar für Nagelsmann selbst. Der Mann, der seit seinem Amtsantritt im Februar 2016 als jüngster Bundesligacoach der Geschichte durch die Decke ging, der einen ganzen Club wachküsste, lässt in seinem letzten Jahr in Hoffenheim nicht locker, Nagelsmann zu sein. Er ist ein offenes Buch. Während des Spiels und hinterher bei der Analyse.

Der rastlose Trainer scheint dabei fast schon perfekt zu den Tempomachern aus Leipzig passen, wo er bald Ralf Rangnick als Trainer ablöst. Fußballerisch sind die beiden vielleicht Brüder im Geiste – menschlich womöglich auch. Denn RB-Sportdirektor Ralf Rangnick bleibt in seinem Leben auch ganz gerne Ralf Rangnick und lässt sich nicht verbiegen – ebenso wie Julian Nagelsmann. Wie sich das im Alltag äußert, da unterscheiden sich die beiden dann aber doch gewaltig. Denn Nagelsmann bleibt Nagelsmann, indem er sich verändert.

Dinge ausprobieren und experimentieren, das macht er nicht nur auf dem Platz. Sondern auch in seinem Gesicht. Als Nagelsmann zum ersten Saisonspiel beim FC Bayern etwa mit offenbar gezupften und nachgezeichneten Augenbrauen erschien, da machte er sich nichts draus und redete einfach drüber. „Ich habe Schlupflider“, sagte er: „Frauen dürfen sich auch immer schick machen – da habe ich gedacht, dass man es als Mann auch machen kann.“

Der Traum von der Firma in den Alpen

Wer nun aber nach solchen Aktionen und Aussagen immer denkt, dieser Nagelsmann sei irgendwie entrückt, der irrt. Denn wenn der Coach irgendwo abhebt, dann nur in den Bergen, die der Naturbursche über alles liebt. Im Grunde seines Wesens ist Nagelsmann in seiner eigenen Wahrnehmung etwas überspitzt formuliert eher ein Bergsteiger, der sich auf die Trainerbank verirrt hat. Über die Zeit nach der Karriere sagt er: „Mein größter Traum wäre es, in die Alpen zu ziehen und dort eine Firma zu gründen, die Outdoor-Aktivitäten anbietet.“ Das macht Nagelsmann frei. Er ist geerdet – und aus dieser Haltung heraus probiert er einfach. Auf dem Platz und daneben. Er gibt Gas und steht dazu. Julian Nagelsmann bleibt bei sich – und dabei ist Stillstand immer Rückschritt. Das letzte Jahr in Hoffenheim bleibt für ihn immer ein Anfang.