Ludwigsburger Absolventen haben einen virtuellen Ausflug in ein Szenario des Stuttgarter Comic-Künstler Felix Mertikat realisiert: Szene aus „Koshu VR“ Foto: FMX

Animationskünstler machen heute aus Videospielen intensive Erfahrungen in virtuellen Welten. Besucher der „Game Zone“ des Stuttgarter Trickfilm-Festivals im Kunstgebäude und des Fachkongresses FMX können das derzeit am eigenen Leib erfahren.

Stuttgart - Das Kunstgebäude am Schlossplatz ist ein begehrter Ort, um dessen künftige Nutzung Kulturschaffende verschiedener Sparten ringen. Derzeit hinterlässt das Trickfilm-Festival seine Visitenkarte, es bespielt erstmals das gesamte Haus mit seiner „Game Zone“, einer umfangreichen Ausstellung aktueller, durchweg spielbarer digitaler Szenarien. Im Kuppelsaal ist auf Riesenpanorama „The Long March“ zu sehen, eine spielbare Kunst-Installation des Chinesen Feng Mengbo, der Mao Tse-tungs Heldenmythos in pixeliger Grafik in ein Renn-, Spring- und Kampfspiel der 1980er Jahre transferiert.

„Das ist ein toller Rahmen, aber 2000 Quadratmeter zu bespielen schon eine Aufgabe“, sagt Professorin Sabiha Ghellal, die das neue des Instituts für Games an der Stuttgarter Hochschule der Medien (HdM) leitet. Sie hat die Game Zone kuratiert gemeinsam mit Stephan Schwingeler, dessen Doktorarbeit über das „Kunstwerk Computerspiel“ einst für Aufsehen sorgte. Die HdM organisiert die Game Zone, „wir haben hier Hardware für 100 000 Euro im Einsatz und 65 Studierende“, sagt Ghellal. Sie arbeitet an einem Netzwerk, die Hochschulen aus Zürich und Kassel sind ebenso vertreten wie die Ludwigsburger Filmakademie.

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Vieles im Programm strotzt denn auch vor studentischer Energie, wobei ästhetische und inhaltliche Kriterien eine zentrale Rolle spielen. Im Wettbewerb sind Games wie „Unstoppable“, in dem Menschen mit Handicaps einander auf intelligente Weise helfen. Gewonnen hat den Animated Games Award Germany“ gestiftet von der MFG-Filmförderung, am Mittwochabend „On Rusty Trails“ von Tobias Bilgeri – sein Hauptcharakter Elvis kann blitzschnell sein Äußeres verändern und die Seiten wechseln, wenn es die Situation erfordert.

Spieler bekommen Fähigkeiten von Superhelden wie Flash und Spiderman

Außerhalb des Wettbewerbs verblüffen Arbeiten wie „Phone Story“: Die Spieler verteidigen auf einem iPhone dessen Herstellungspraxis, sie müssen afrikanische Kinder zum Weitergraben nach Rohstoffen anhalten und sklavenähnliche Arbeiter in Indien am Suizid hindern. Die „Pain Station“ verteilt leichte Elektroschocks an diejenigen, die Fehler machen, und „Riot Against“ greift das Wutbürger-Phänomen auf, indem es Petitionen „Gegen Hunde und Katzen“ oder „für bessere Moderatoren“ ausruft. Die HdM-Kreation „Schacht“ hingegen ist ein überhitzter„Jump and Run“-Wettlauf über im Raum schwebenden Schrott mittels ausgeklügelter Hilfsmittel, die an die Fähigkeiten von Superhelden wie „Flash“ und „Spiderman“ erinnern.

Die spektakulärsten Arbeiten entführen in virtuelle Realitäten (VR). Mit geschlossener VR-Brille und Kopfhörern wähnt man sich in computergenerierten Räumen, die sich beim Rundumblick schon recht glaubwürdig anfühlen – auch wenn man natürlich noch nichts mit Händen greifen kann, sondern nur mit Controllern. Von der HdM kommt „Sky Touch“, ein aufwendiger Aufbau mit mechanischen Winden und Windmaschine, der die Illusion eines Gleitschirmfluges über eine stilisierte Großstadt vermittelt. In „V Run“ eilt man – physisch auf einem Laufband - über die Mondoberfläche, um die Erde vor einem Meteoriten zu bewahren.

Ulrich Wegenast, der künstlerische Leiter des Trickfilm-Festivals, hofft nun auf räumliche Kontinuität für die Game Zone im Kunstgebäude: „Für uns ist es wichtig, das Thema als Kunstform des 21. Jahrhunderts an unserem Spielort Schlossplatz zeigen zu können. Unser Angebot ist so kuratiert, dass es anschlussfähig wäre an die anderen Aktivitäten im Haus, etwa an die Medienkunst, die der Württembergische Kunstverein auch zeigt. Uns geht es um Qualität und um Ernsthaftigkeit, aber auch um den Spaß. Damit ziehen wir viel jugendliches Publikum an, das auf diese Weise das Haus kennenlernt.“ Kunststaatssekretärin Petra Olschowski lobt „die Verknüpfung von virtueller Realität und klassischen Ausstellungsräumen“ sowie die „die gesellschaftliche und künstlerische Relevanz“ vieler Exponate. „Das Experiment mit neuen Formaten zwischen Ausstellung und performativen Projekten, Kunst und Theorie, Partizipation und Debatte“ sei ganz im Sinne der spartenübergreifenden Interimsnutzung, die Hinweise geben soll, wofür sich das Kunstgebäude eignet. Und sie betont: „Eine Entscheidung über das Zukunftskonzept des Hauses ist noch nicht gefallen.“

Teleportation – eine erhebende Zukunftserfahrung

Im VR-Spiel „Elena“ wird man zur Frau, deren Mann verschwunden ist, und die in ihrer Wohnung Hinweise finden muss. Dabei steht man auf der Stelle und teleportiert sich mittels Controller in jeden gewünschten Winkel der Spielumgebung – eine durchaus erhebende Zukunftserfahrung. Die lässt sich auch in „Blues“ machen, einem VR-Spiel von Caty Blättermann, Studentin am Ludwigsburger Animationsinstitut. Ihre Arbeit steht allerdings nicht im Kunstgebäude, sondern im Haus der Wirtschaft beim Fachkongress FMX, den das Animationsinstitut veranstaltet und bei dem VR und komplexe Spielewelten auch unter technischen Machbarkeitsgesichtspunkten beleuchtet werden. Blättermann hat mutig eigene frühere Panikattacken zum Inhalt gemacht. Während man sich munter teleportiert und Aufgaben erledigt wie die, den Roman „Die Glasglocke“ der unter Depressionen leidenden Autorin Sylvia Plath vom Boden aufzuheben, muss man mit den Controllern immer wieder der Beruhigungs-Atmung der Figur folgen, sonst verengen kratzende Bleistiftstriche zunehmend das Sichtfeld.

Ebenfalls bei der FMX zu sehen sind die beiden ersten Ergebnisse der Landesinitiative VR Now, die es Absolventen des Ludwigsburger Animationsinstituts ermöglicht, dort nach dem Studium ein Projekt zu verwirklichen. Martin Nerurkar hat in „Wheelhouse“ verarbeitet, dass die Freundin plötzlich im Rollstuhl saß – und zwingt die Spieler in einen ebensolchen, den sie real durch einen einen virtuellen Raum mit löchrigem Boden manövrieren, wo sie Türen öffnen und mit einem Controller Objekte umplatzieren. Eine das Verständnis fördernde Erfahrung ist das, und ein forderndes Spielerlebnis zugleich.

Während hier noch aufwendige Technik aus Kameras und Markern den Bewegungsrahmen absteckt, beschreiten Benjamin Rudolf, Jonas Kirchner und Christoph Rasulis mit „Koshu VR“ einen revolutionären Weg: Ihr System braucht nur ein Mobiletelefon, das die verfügbare begehbare Fläche vermisst und speichert, sowie einen Controller mit nur einem Knopf, mit dem der Spieler den virtuellen Raum beliebig so drehen kann, dass sein nächstes Ziel im Bewegungsrahmen erreichbar wird. Ganz Venedig könnte man so virtuell erwandern, man müsste eben nur alle paar Meter den Raum drehen. Der Vorteil gegenüber der Teleportation: Man legt alle Strecken real auf zwei Beinen zurück, was den Eindruck echten Erlebens verstärkt. In „Koshu VR“ bewegt man sich in einem Fantasy-Szenario des Stuttgarter Comic-Künstlers Felix Mertikat, in einer Wüste wird man auf einen riesigen blauen Elefanten gehievt und muss einen Weg durch komplexe orientalische Aufbauten finden – ein die Nerven kitzelndes Spiel mit den Sinnen.

Talente werden weiter gefördert

Ein Jahr haben die Absolventen, die alle in Ludwigsburg geblieben sind, im Animationsinstitut daran gearbeitet. „Wir hatten dort einen Raum, durften teure Gerätschaften benützen und konnten uns Beratung holen“, sagt Benjamin Rudolf. „Man trifft sich und hilft sich gegenseitig im Umfeld der Akademie, das ist ein starkes Netzwerk.“ Da sind sie, die Talente, die nicht abwandern, und das Land möchte sie weiter unterstützen: Am Dienstag hat Kunststaatssekretärin Petra Olschowski bei der FMX-Eröffnung verkündet, dass im Rahmen eines VR-Förderpakets auch VR Now weitergeführt wird. Dank der Hochschulen Filmakademie und HdM, die mit einem eigenen Label bereits Spiele im Markt platziert, könnte sich die Region Stuttgart zu einem Zentrum im Millionengeschäft Games zu entwickeln.