Ursula Ankele-Fischer begleitet regelmäßig Kinder von getrennt lebenden Eltern auf ihrer Fahrt von Mama zu Papa und zurück quer durch Deutschland. Foto: Leif Piechowski

Seit 2003 bietet die Bahn „Kids on tour“ an. Dabei werden Kinder von Ehrenamtlichen auf ihrer Zugfahrt zum getrennt lebenden Elternteil betreut. Oftmals fließen dabei Tränen.

Seit 2003 bietet die Bahn „Kids on tour“ an. Dabei werden Kinder von Ehrenamtlichen auf ihrer Zugfahrt zum getrennt lebenden Elternteil betreut. Oftmals fließen dabei Tränen.

Stuttgart - Der Wind pfeift über die Gleise. Es nieselt. Schwer bepackt hasten Reisende an diesem Freitagnachmittag zwischen gelangweilt blickenden Geschäftsleuten zu ihrem Zug im Stuttgarter Hauptbahnhof. Inmitten dieses Gewusels läuft Ursula Ankele-Fischer; auf ihrer blauen Jacke steht „Bahnhofsmission“. Neben ihr gehen drei Kinder mit Rucksäcken auf der Schulter, die an diesem Wochenende das tun, was sie in der Regel jedes zweite Wochenende tun: Sie fahren mit dem Zug etliche Kilometer weit in eine andere Stadt zu Mama oder Papa. Es sind Trennungskinder – genauer gesagt: Pendler-Kinder.

Betreut werden sie auf ihrer Fahrt von Ehrenamtlichen wie Ursula Ankele-Fischer. Seit fünf Jahren fährt die 68-Jährige mehrmals im Monat im Rahmen des Bahn-Angebots „Kids on tour“ mit Trennungskindern etwa bis nach Göttingen und begleitet sie zu dem Elternteil, der an einem anderen Ort lebt. Die Kinder werden von ihrer Mutter oder ihrem Vater zur Bahnhofsmission gebracht, dort nimmt Ankele-Fischer sie in Empfang. „Bis vor einiger Zeit haben sich die Kinder am Gleis verabschiedet oder wurden dort abgeholt, aber aus Sicherheitsgründen hat die Bahn das geändert“, erzählt die Betreuerin. Ganz so schlecht findet sie die neue Regel nicht. „Man weiß nie, welche Szenen sich abspielen, da ist es besser, wenn das in einem geschützten Raum abläuft.“

Austausch unter Kindern: "Die neue Freundin vom Papa ist doof"

Es sind diese Szenen, die durchaus extrem ausfallen können. „Ich habe schon erlebt, dass Kinder gar nicht fahren wollten und sich an ihrer Mama festgehalten haben. Oder dass der abholende Elternteil ewig nicht kam, da muss man dem Kind versichern, dass Mama oder Papa sicher gleich kommen und es nicht vergessen haben“, erzählt Ursula Ankele-Fischer. Es sind Szenen, die auch ihr ziemlich an die Nieren gehen. Und doch übt sie dieses Amt gerne aus, weil sie den Kindern Gutes zurückgeben will.

An diesem Freitag läuft alles ruhig ab. Ihre drei Schützlinge steigen in den Zug und vertiefen sich in ihr Smartphone. Für solche Fälle haben die Betreuer einen von Sponsoren gestifteten Spielekoffer dabei, und auch bei dieser Fahrt funktioniert das Prinzip: Spielt erst einmal ein Kind mit dem Betreuer, kommen rasch die anderen hinzu, die Trübsal ist wie weggeblasen. Denn es sind nicht immer schöne Dinge, die Ursula Ankele-Fischer und ihre Kollegen während der Fahrt in ihrem Abteil erleben. „Viele Kinder sind traurig, manche weinen. Und da scheue ich mich dann auch nicht, die Kleinen in den Arm zu nehmen und zu trösten“, erzählt sie. Auf den Schoß nehme sie ein Kind allerdings nie, auch die Zug-Toilette betrete sie niemals gemeinsam mit einem Kind. Sie bringe das Mädchen oder den Jungen lediglich bis zur Klotür mit dem Versprechen, davor zu warten und aufzupassen.

Die meisten der mitreisenden Kinder seien in einer ähnlichen Situation und redeten miteinander über ihre Lebensgeschichte. Sätze wie „Die neue Freundin vom Papa ist doof“ oder „Ich hoffe, meine Eltern kommen wieder zusammen“, so was höre man nicht selten. Allerdings: Als Betreuer dürfe man sich nicht einmischen oder eine Wertung abgeben. „Eine neutrale Zuhörerin ist aber wichtig für die Kinder, ein Mensch, der nicht auf Mama oder Papa herumhackt oder einen von beiden schlecht macht.“

Seit zehn Jahren gibt es das Angebot „Kids on Tour“ der Deutschen Bahn auf bundesweit neun Verbindungen. Mitfahren können alle Kinder zwischen sechs und 14 Jahren, auch Behinderte sind manchmal mit an Bord. Einzige Bedingung: Die Kinder müssen selbstständig die Toilette aufsuchen können, und sie dürfen jeweils nur ein Gepäck- und ein Handgepäckstück mitnehmen, die sie selbst tragen können. Wie wichtig dieses Angebot vor allem in den vergangenen zwei Jahren geworden ist, zeigen die Buchungszahlen: „Seit dem Start des Projekts im Jahr 2003 haben wir insgesamt etwa 50 000 Buchungen verzeichnet, das waren bis 2011 pro Jahr durchschnittlich etwa 3700. Allein im Jahr 2012 wurde das Angebot dann mehr als 8400-mal gebucht, in 2013 waren es schon knapp 8500 Kinder“, sagt Brigitte Pörner von der Deutschen Bahn.

Pro Strecke und Kind kostet die Betreuung zusätzlich zur Kinderfahrkarte 30 Euro. Es ist der Betrag, den die Betreuer als Aufwandsentschädigung erhalten. Für nicht ganz so betuchte Eltern ist das eine Stange Geld; die Bahn kennt hier allerdings keine Ausnahmen. „Die Kosten müssen ja getragen werden, wir können nicht auch noch die familiären Hintergründe berücksichtigen“, begründet Brigitte Pörner.

Es sind Kosten, die die Eltern des 14 Jahre alten Anton (Namen von der Redaktion geändert) gerne bezahlt hätten; doch damals wurde die Strecke Stuttgart–München noch nicht betreut. Seit knapp vier Jahren pendelt Anton mit seiner 16-jährigen Schwester Emma an jedem zweiten Wochenende zwischen Stuttgart und München. Damals hätte er sich eine solche Betreuung im Zug gewünscht. „Wir sind zuvor noch nie Zug gefahren, und es war gar nicht schön für uns, allein da drin zu sitzen, mit all den fremden Menschen um uns herum“, erzählt er. Auch wenn seine getrennt lebenden Eltern die beiden schon damals stets pünktlich und zuverlässig zum Zug brachten und abholten.

Heute sieht Anton die Pendelei gelassen. „Man kann Musik hören, mit dem Handy spielen oder andere Leute beobachten, das ist ganz lustig“, sagt er. Viel schlimmer findet seine Schwester, was sie teilweise im Zug oder an den Gleisen mit ansehen müssen: „Da fahren richtig kleine Kinder alleine mit dem Zug, und wir haben neulich auch mal gesehen, wie so ein Kind nach dem Aussteigen ewig am Bahnhof stand, bis endlich sein Papa im Anzug angerannt kam“, erzählt Emma und hat beim Gedanken daran selbst noch Tränen in den Augen.

Die Begleiter sollen Autonomie und Selbstbewusstsein fördern

Genau das ist es, was nicht nur eine Trennung, sondern auch das Zugfahren so schlimm für Kinder machen kann. „Wenn etwa der Vater zu spät zum Abholen kommt und die Mutter das anschließend bei den Kindern als Argument gegen Papa benutzt, ist das ganz schlecht für die Kinder“, sagt der Stuttgarter Kinder- und Jugend-Psychiater Michael Herter. Auch dürfe man keinesfalls heulend mit den Kindern am Bahnhof stehen. „Das erzeugt nur noch mehr Stress bei allen.“

Eher solle man die Kinder bestärken und ihnen Mut machen, dies sei der einzig richtige Weg, um die Entwicklung von Autonomie und Selbstbewusstsein zu fördern. Und dass manche Kinder nicht zum anderen Elternteil fahren wollten, kann auch Michael Herter bestätigen; seit vielen Jahren schreibt er Gutachten für Familiengerichte, wenn es um das sogenannte Umgangsrecht geht. Doch leider bleibt den Kindern häufig keine Wahl, als sich in den Zug zu setzen. „Der Wille des Kindes spielt vor Gericht zwar eine Rolle. Aber in den seltensten Fällen wird er auch berücksichtigt, denn dem Gericht ist natürlich auch daran gelegen, dass das Kind regelmäßig beide Elternteile sieht“, betont Herter. Eine Betreuung wie bei „Kids on tour“ findet er wichtig, weil die Kinder auf andere Gedanken kämen, nicht nur beim gemeinsamen Spiel.

Ursula Ankele-Fischer ist mittlerweile mit den Kindern in Göttingen angekommen. Auf der Rückfahrt erzählt sie, dass sie noch möglichst lange weitermachen will. Denn es seien nicht nur traurige Erlebnisse, die ihr Ehrenamt begleiteten – sondern auch schöne. Einmal sei ein blinder Junge mitgefahren. Nach kurzer Zeit habe dieses Kind das gesamte Abteil für sich eingenommen, die Kinder hätten ihr Smartphone zur Seite gelegt und fasziniert zugehört, was er erzählt habe. „Er hat uns unglaublich viel übers Spüren und Wahrnehmen beigebracht, das war ein wunderschönes Erlebnis.“