Stefan Betsch führt Interessierte durch Travertinpark Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Auf Spurensuche: In unserer Sommer­serie „Stuttgarter Entdeckungen“ wollen wir mit Hilfe unserer Leser verborgene Geschichten aufspüren. Wir schauen auf Orte, Fassaden, Bauwerke oder Kulturdenkmäler, die sich nicht auf den ersten Blick erklären. Diesmal: der Travertinpark beim Hallschlag.

Stuttgart - Im September vergangenen Jahres hat die Stadt Stuttgart den Travertinpark umgestaltet. Besucher erwartet ein faszinierender Einblick in die Zeitgeschichte – und eine wunderschöne Aussicht auf Bad Cannstatt.

Stadtführer Stefan Betsch steht vor einer Info-Tafel. Ein buntes Bild ist darauf zu sehen, das das Neckartal vor 300 000 Jahren zeigen soll: Waldelefanten auf einer saftiggrünen Wiese, Urmenschen, die sich um eine Lagerstelle geschart haben. Wasser sprudelt neben ihnen aus dem Boden, fließt das Plateau entlang und stürzt in einem kleinen Wasserfall über Mineralstein hinab auf eine darunter gelegene Ebene.

Stefan Betsch nimmt seinen Finger von der Tafel. Er steht an dem Ort, den sich der Zeichner der Urzeitszene so idyllisch ausgemalt hat. Es ist ein anderes Bild jetzt. Betsch lässt den Blick schweifen und erklärt: „Dort sehen Sie das Kraftwerk Münster, weiter links das Viadukt, in weiter Ferne sogar die Grabkapelle auf dem Württemberg, dann vorne die Liebfrauenkirche, das Stadion, den Wasen.“

Hinter der alten Kelter auf dem Hallschlag erstreckt sich der neu gestaltete Travertin-Park. Die Führung des Bad Cannstatters beginnt direkt hinter dem Gebäude, dort, wo sich einst der Steinbruch der Firma Schauffele befand, die hier Travertin-Steine verarbeitete. Die Überreste sind noch erhalten – und wurden im Jahr 2008 restauriert. Betsch tritt an eine der alten Schneidemaschinen heran. „Mit dieser Gattersäge wurden Travertinblöcke in Scheiben geschnitten. Das war die typische Form, weil der Stein in erster Linie als Verkleidung von Häusern verwendet wurde“, erklärt er.

Bis 1980 wurde schwäbische Marmor abgebaut

Cannstatter Marmor, Sauerwasser-Marmor oder schwäbischer Marmor, es gibt viele Namen für den besonderen Stein, der hier bis in die 1980er Jahre im großen Stile abgebaut wurde. Das Wort leitet sich ab vom italienischen „Travertino“, was wiederum auf den lateinischen Begriff „Lapis tiburtinus“ zurückgeht – den Stein aus Tivoli.

Der Steinbruch Schauffele ist der Startpunkt der Führung. Seit dem Jahr 1922 baute das Unternehmen hier den schwäbischen Marmor ab und belieferte damit Bauherren in der Region: zum Beispiel für den Mittnachtbau an der Stuttgarter Königstraße und für Bauten der Nationalsozialsten in Nürnberg.

Stadtführer Betsch rückt seine gemusterte Mütze zurecht und läuft an den alten Steinbearbeitungsgeräten vorbei. Der Ort erzählt auch von der Industriegeschichte Cannstatts. Die drei Firmen Schauffele, Lauster und Haas hatten in der Umgebung ihre Steinbrüche. Das Freiraumkonzept Hallschlag hat die Stadt Stuttgart Ende September 2014 abgeschlossen. Das Areal umfasst insgesamt rund acht Hektar, die Kosten für die Umgestaltung des Geländes lagen bei 800 000 Euro. „Es sind sehr viele Wege neu angelegt worden. Vorher nahmen sich einige Abschnitte aus wie eine wilde Müllhalde“, sagt der Parkführer.

Mineralwasser färbt den Stein

Nach Meinung von Experten eine Ungeheuerlichkeit. Handelt es sich hierbei doch um eine der wichtigsten Travertin-Fundstellen in ganz Europa. Das liegt daran, dass nirgendwo in Westeuropa so viel Mineralwasser im Boden sprudelt wie in der Landeshauptstadt. Der besondere Stein entsteht, wenn das Mineralwasser an die Oberfläche gelangt: Sprudelt das Mineralwasser nämlich an die Luft, wird durch den Druckabbau Kohlensäure freigesetzt. Dabei lagern sich die Mineralien Schicht für Schicht ab und härten mit der Zeit aus. Weil sich im Stuttgarter Mineralwasser vor allem Eisen befindet, färbt sich der hiesige Travertinstein gelb oder bräunlich.

„Das verbindet den Stuttgarter Travertin mit jenem, der in der Nähe von Rom abgebaut wird“, sagt Betsch. Er ist inzwischen einem der Wege gefolgt, der sich eine kleine Steigung hinaufschlängelt und dann wieder abfällt bis zu einem großen, eindrucksvollen Steinbruch: „An dieser Stelle ist sehr gut nachvollziehbar, wie die Blöcke aus den Steinen herausgeschnitten worden sind“, sagt Betsch. Er deutet auf die riesige Grube, in der die Firma Haas das letzte Mal im Jahr 2007 Travertin gewonnen hat. Travertin der Firma Haas verbauten Baumeister zum Beispiel im baden-württembergischen Landtagsgebäude und im Schloss Rosenstein. Für Archäologen indes war das gesamte Areal eine Fundgrube. Denn der besondere Stein wirkt konservierend. In der Vergangenheit haben Forscher immer wieder Fossilien entdeckt – zum Beispiel von den Überresten von Waldnashörnern, Waldelefanten und Sumpfschildkröten. Auch Feuersteinwerkzeuge von Urmenschen fanden die Archäologen. Einige der Stücke können Besucher des Naturkundemuseums am Löwentor besichtigen.

Stefan Betsch läuft weiter. Nur einen Steinwurf von der Müllverbrennung entfernt ragen 14 stolze Säulen in den Himmel. Sie wurden im Jahr 1936 von den Nazis in Berlin bestellt und waren für die von ihnen geplante Welthauptstadt Germania bestimmt. Albert Speer plante ein Denkmal zu Ehren des italienischen Diktators Benito Mussolini, das er am Adolf-Hitler-Platz in Charlottenburg errichten wollte. Dafür orderte das Nazi-Regime die 14 Säulen im Steinbruch Lausterer. Dementsprechend pompös sind sie, verziert mit aufwendig gestalteten Gesimsteilen. Doch die Geschichte nahm glücklicherweise einen anderen Verlauf.

Nach dem Krieg wollte niemand mehr etwas von den kleinen Siegessäulen wissen. Im Jahr 1984 schließlich wurde der Steinbruch inklusive der mehr als ein Dutzend Säulen zum Denkmal erhoben.

Stadtführer Betsch ist wieder am Ausgangspunkt angekommen, der alten Kelter am Steinbruch Schauffele. Er lässt den Blick über die Stadt schweifen. Irgendwo in weiter Ferne, ein kleiner Punkt, ist auch das Mineralbad Leuze. Besuchern legt er einen Besuch der Sauna nahe. Warum? Dort liefert ein Tropfstein, der aus der Decke ragt, eines der anschaulichsten Beispiele für die Besonderheiten des schwäbischen Marmors: Durch das Mineralwasser hat sich dort eine dicke Travertinkruste gebildet.

Mehr Informationen zu Führungen durch den Travertinpark sind im Internet verfügbar unter der Seite www.bad-cannstatt-erleben.de. Die Führungen dauern ungefähr anderthalb Stunden.