Sebastian Hoeneß sieht seinen Weg mit dem VfB noch nicht am Ende. Foto: Pressefoto Baumann/Hansjürgen Britsch

Der VfB-Trainer spricht im Interview über die harte Haltung des Vereins im Fall Nick Woltemade, die Ziele in Stuttgart – und den Grund für das Streichen seiner Ausstiegsklausel.

Sebastian Hoeneß geht in seine dritte Saison als Trainer des VfB Stuttgart. Vor dem Bundesliga-Auftakt am Samstag bei Union Berlin (15.30 Uhr) spricht der 43-Jährige über die gestiegenen Ansprüche, Titel-Ansagen seiner Spieler und die Lehren aus der vergangenen Spielzeit.

 

Herr Hoeneß, der Bundesligastart steht an. Nach der Champions-League-Teilnahme und dem Pokalsieg ist die Erwartungshaltung hoch. Rockt der VfB in dieser Saison nun die Europa League?

(lächelt) Erst einmal geht es am Samstag gegen Union Berlin um einen guten Bundesligastart. Natürlich wollen wir dann in allen drei Wettbewerben so gut wie möglich abschneiden. Und klar rechnen wir uns auch in der Europa League etwas aus. Aber davor stehen noch einige Dinge, an denen wir in den nächsten Wochen arbeiten müssen.

Können Sie das konkret benennen?

Einen zentralen Punkt nach dem Supercup gegen den FC Bayern haben wir im Trainerteam als „Game Management“ bezeichnet.

Das heißt?

Da geht es um Cleverness, um Reife. Es gab einige Situationen gegen die Bayern, die wir zur Anschauung herausziehen konnten. Nur ein Beispiel von vielen: Nach 18 Sekunden gab es einen Einwurf, bei dem nicht ganz klar war, für wen. Wer hat sich als erstes den Ball geschnappt und eingeworfen? Die Bayern! Bei solchen Dingen muss unsere nach wie vor junge Mannschaft weiter lernen.

Anders als in den vergangenen Jahren hat ihr Team diesmal in Enzo Millot nur einen statt gleich mehrerer Leistungsträger verloren. Inwieweit schraubt das die Erwartungshaltung nach oben, auch bei Ihnen?

Es war unsere Zielsetzung für die aktuelle Transferperiode, das Gerüst des Kaders zu halten und uns in der Spitze und in der Breite zu verstärken. Wir haben in den vergangenen Transferperioden fast eine komplette Startelf abgegeben und dafür sehr viele zumeist junge Spieler mit Potenzial verpflichtet. Mit Enzo haben wir jetzt in der Tat nur einen Topspieler verloren, dennoch sollten daraus keine überhöhten Erwartungshaltungen abgeleitet werden. Natürlich erhoffen wir uns, dass wir uns als Mannschaft weiterentwickeln und dass auch einzelne Spieler weitere Schritte in ihrer persönlichen Entwicklung gehen, so wie das in der Vergangenheit bereits der Fall war.

Zeigt die Beharrlichkeit, Nick Woltemade nicht an den FC Bayern abzugeben, dass der VfB an Stärke gewonnen hat?

Es hat im Fall von Nick auch eine Rolle gespielt, dass wir nicht auf die Transfereinnahmen angewiesen waren. In erster Linie haben wir uns aber aus sportlichen Gründen entschieden, Nick nicht abzugeben und damit die Wettbewerbsfähigkeit unseres Kaders zu erhalten. Ganz grundsätzlich gesprochen hat der VfB durch die Erfolge der vergangenen Jahre an Stärke und Strahlkraft gewonnen, das hat in vielerlei Hinsicht positive Auswirkungen.

Mancher Spieler leitet aus dem neuen VfB-Selbstverständnis höchste Ambitionen ab. Jamie Leweling hat den Sieg in der Europa League aus Ziel ausgegeben. Wie denken Sie als Trainer über solche Aussagen?

Damit habe ich kein Problem. Zumal es in der Euphorie des Pokalsiegs sicher nicht ganz ernst von Jamie gemeint war. Ich fand seinen Auftritt auf dem Schlossplatz eine starke Performance und eher amüsant. Auch Deniz Undav äußert sich ja mitunter forsch, wenn er nach seinen Saisonzielen gefragt wird. Das war auch schon in der Vergangenheit so. Die Spieler dürfen träumen und Ziele aus ihrer Perspektive formulieren.

Sie hingegen geben keine Tabellenplätze oder Titel als Saisonziele aus.

Ich sehe zum jetzigen Zeitpunkt keinen Nutzen für uns darin, ein konkretes Ziel zu formulieren. Im März oder April könnte das vielleicht nochmal ein Trumpf sein, um der Mannschaft einen zusätzlich Motivationsschub zu geben. Am Anfang einer Saison ist das nicht hilfreich.

Sebastian Hoeneß im Gespräch mit unseren Redakteuren Carlos Ubina, David Scheu und Gregor Preiß (von links). Foto: StZN

Die Erwartungen vieler Fans sind mit dem Pokalsieg aber gestiegen.

Natürlich, das darf auch sein. Hohe Erwartungen zeigen, dass hier in den vergangenen Jahren nicht alles falsch gelaufen ist und die Entwicklung in die richtige Richtung geht. Meine Aufgabe als Trainer ist es, die inneren und äußeren Erwartungen zu moderieren und sie als Ganzes realistisch einzuschätzen. Allerdings bekomme ich von Fanseite keine überhöhten Erwartungen mit. Die meisten sagen: Bleibt bei euch und setzt euren Weg fort.

Wo steht der VfB denn innerhalb der Bundesliga?

Die Top vier – der FC Bayern, Borussia Dortmund, Bayer Leverkusen und RB Leipzig – bewegen sich bei den Personalkosten nach wie vor in eigenen Sphären. Dahinter befinden sich einige Mannschaften in Lauerstellung, die zuletzt den Abstand etwas verkürzen konnten.

Streben Sie eine regelmäßige Präsenz im Europapokal an?

Wir wollen mittelfristig in der Lage sein, mit der Zielsetzung in eine Saison zu gehen, um die internationalen Plätze mitzuspielen. So weit sind wir jetzt noch nicht. Aber ich glaube, dass das mit dem VfB möglich ist. Das haben wir bei meiner Vertragsverlängerung im März ja auch so formuliert.

Seitdem enthält Ihr Vertrag auch keine Ausstiegsklausel mehr.

Das war auch mein persönlicher Wunsch, um Diskussionen und Nebengeräusche zu vermeiden. Wir können und wollen uns voll auf die inhaltliche Arbeit fokussieren.

Wo lag hier zuletzt der Schwerpunkt?

Die Analyse der vergangenen Saison hat mehrere Punkte ergeben. Beispielsweise haben wir zu viele Gegentore nach Ballverlusten in der Vorwärtsbewegung hinnehmen müssen, auch defensive Standards waren ein Thema. Es hat sich auch gezeigt, dass wir die Mannschaft mit den meisten Balleroberungen in der gegnerischen Hälfte waren, daraus aber zu wenig Kapital geschlagen haben. Insgesamt müssen wir sowohl in der Defensive als auch in der Offensive abgeklärter werden.

In der Vorsaison haben Sie mit dem VfB Rang neun in der Bundesliga erreicht. Eine ordentliche Platzierung, die der Stabilisierung dient – aber es war mehr drin.

Wir haben es in einigen Momenten verpasst, die Spiele für uns zu entscheiden und in der Tabelle oben hineinzustoßen. Ich sehe es positiv, dass wir diese Chancen hatten, mehr zu erreichen. Denn es zeigt, dass wir in vielen Bereichen wieder auf hohem Niveau agiert haben. Und ich sage auch: Es war eine sorgenfreie Saison für den VfB – das ist ein Erfolg nach den vielen Jahren, in denen es gegen den Abstieg ging. Nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund, dass wir vor der Saison drei absolute Leistungsträger abgegeben hatten.

Wie bewerten Sie das Abschneiden in der Königsklasse?

Die Champions League sehe ich ähnlich. Wir haben uns über weite Strecken gut präsentiert und müssen uns für die Spielweise und Punktausbeute sicher nicht schämen. Aber auch hier hätte es ein, zwei Punkte mehr gebraucht, um sagen zu können: Es war top. Auf jeden Fall war es lehrreich für unsere junge Mannschaft.

Sticht ein Spiel hier besonders heraus?

Die Niederlage gegen Paris Saint-Germain muss man nennen. Die Mannschaft von Paris hatte sich zunächst in der Champions League schwergetan, im Spiel gegen ManCity war sie dann sehr gut und gegen uns hat sie mich schwer beeindruckt. In den vergangenen Jahren hatten sie auch schon viele Spitzenspieler, aber jetzt arbeiten sie unter Luis Enrique geschlossen gegen den Ball. Ich habe mir in der Rückrunde viele Spiele von PSG angeschaut und auch bei unseren Analysten Material dazu angefragt.

Wird sich an der Spielidee des VfB etwas ändern zur neuen Saison?

Wir werden weiter unseren mutigen und aktiven Offensivfußball spielen. Ich bin aber kein Dogmatiker, eher ein Pragmatiker. Deshalb kann es je nach Gegner immer Anpassungen geben. Wenn es erfolgsversprechender ist, dass wir hohe Bälle von hinten spielen, um die Pressinglinie des Gegners zu überwinden, dann werden wir das machen.

Ziehen Sie aus der Mehrfachbelastung der vergangenen Saison Lehren?

Ich gehe davon aus, dass wir alle aus den Erfahrungen gelernt haben. Dabei geht es weniger um organisatorische Abläufe, um eine bessere Spielvorbereitung zu ermöglichen. Da gibt es wegen der entsprechenden Vorgaben nur wenige Spielräume. Es sind vielmehr individuelle Lehren, die sich ziehen lassen. Die Spieler wissen jetzt viel besser, wie es ist, viele Spiele in kurzer Zeit zu absolvieren. Sie haben es selbst gespürt und können diese körperlichen und mentalen Belastungssituationen nun anders einschätzen.

In der Europa League wird sich die Belastung mit den vielen englischen Wochen nicht ändern.

Das stimmt, aber auf der Champions League liegt dann doch eine größere Aufmerksamkeit. Da ist es schon schwierig, einem Stammspieler zu erklären, dass er mal eine Pause braucht. Bayer Leverkusen hat in der Saison 2023/24 gezeigt, wie man die Europa League diesbezüglich bestreiten kann. Mit Blick auf die Belastungssteuerung und auch auf die Moral der Mannschaft, weil nahezu sämtliche Spieler zum Einsatz kamen. Diese Überlegungen sollen den Wettbewerb aber in keiner Weise abwerten. Es wird immer darum gehen, die bestmögliche Elf auf den Platz zu bringen.

Das heißt aber, dass sich die Einsatzzeiten in der anstehenden Saison gleichmäßiger verteilen werden innerhalb des Kaders?

Das ist durchaus möglich.