Pellegrino Matarazzo ist nach 1000 Tagen beim VfB Stuttgart weiter voller Tatendrang. Der Trainer blickt lieber voraus als zurück. Foto: Pressefoto Baumann/Alexander Keppler

Pellegrino Matarazzo ist an diesem Sonntag seit 1000 Tagen im Amt. Das haben beim VfB Stuttgart nur wenige Trainer vor ihm geschafft. Doch wie hat der 44-Jährige diesen Meilenstein ohne großen Titelgewinn erreicht?

Arie Haan muss jetzt weichen. Da hilft alles nichts. Der sympathische Lebemann, der Ende der 1980er Jahre so viel Spaß in die Mannschaft des VfB Stuttgart brachte, verliert seinen guten sechsten Platz. Stürmisch war der Fußball damals unter Haan, und der Bundesligist löste in der Anhängerschaft große Freude aus. Gepaart mit sportlichen Erfolgen und einer neuen Lockerheit, die in die Geschäftsstelle an der Mercedesstraße mit der niederländischen Frohnatur einzog, erfasste die Schwaben eine Euphoriewelle. Doch die Statistik berücksichtigt keine Gefühle und Erinnerungen, sie ist gnadenlos in ihren Zahlen: Haan, Vizeweltmeister als Spieler und Uefa-Cup-Finalist als Trainer, bringt es nur auf 999 Tage als VfB-Chefcoach – Pellegrino Matarazzo wird es an diesem Sonntag 1000 Tage lang sein.

 

Der 44-jährige Italoamerikaner steigt damit in einen erlauchten Kreis auf. Nur noch weiß-rote Trainerlegenden wie Felix Magath (1183 Tage), Christoph Daum (1113), Helmut Benthaus (1095), Jürgen Sundermann (1094) und Armin Veh (1017) stehen dann mit einzelnen Amtszeiten in der ewigen VfB-Rangliste seit Bundesliga-Bestehen 1963 vor Matarazzo. Ein Meilenstein. Zumal die Stuttgarter in den Jahren zuvor eine Reihe von Übungsleitern verschlissen haben. Und eine Arbeitsleistung, die Matarazzo kaum jemand zugetraut hätte, als er am 30. Dezember 2019 seinen Posten als Profinovize antrat.

Was bedeutet Pellegrino Matarazzo dieser Meilenstein?

„Ehrlich gesagt, gibt mir diese Zahl aber nichts. Sie drückt nur aus, wie oft die Erde sich um die Sonne gedreht hat“, sagt Matarazzo, „schon ein Tag beim VfB ist für mich sehr lang und intensiv.“ Nicht die Vergangenheit beschäftigt ihn und auch nicht zu sehr die Zukunft, sondern vor allem die Gegenwart. Matarazzo ist ein Trainer, der nicht nur aufgrund seiner zwei Meter Körpergröße weit über den Spielfeldrand hinausblicken kann – er tut es in der Öffentlichkeit jedoch nur selten. Der Coach hat sich dem Tagesgeschäft verschrieben, und er weiß, dass er aufgrund der aktuellen Tabellensituation keine reine Würdigung erfahren wird.

Der VfB steht auf dem 16. Rang, und der mäßige Saisonstart wird auch dem Trainer angelastet. Er läuft deshalb kaum Gefahr, beim VfB heilig gesprochen zu werden. Vielmehr muss Matarazzo nun die Debatten aushalten, die seinen eigentlichen Ehrentag überlagern. Denn noch nie war ein VfB-Trainer mit einem solch schwachen Punkteschnitt (1,24 Zähler in 98 Pflichtspielen) so lange im Amt, heißt es bei den kritischen Fans. Und noch nie durfte ein VfB-Trainer mit bisher drei Punktspielsiegen im laufenden Kalenderjahr einfach so weitermachen. Es ist ja schließlich Ende September.

Doch intern ist Matarazzo unumstritten. Der Vorstandsvorsitzende Alexander Wehrle und der Sportdirektor Sven Mislintat sind von ihm als Persönlichkeit und Fußballlehrer überzeugt. Menschlich bescheinigen sie ihm im Umgang mit Spielern und Mitarbeitern wahre Größe. Fachlich hat er dem VfB eine klare Spielidee vermittelt. Zudem erreicht er die Mannschaft dauerhaft – und sie folgt ihm. Wie Matarazzo ohne Titelgewinn in der Vereinschronik also überhaupt auf eine Ebene mit den Meistertrainern Benthaus, Daum und Veh gelangen konnte, begründet sich nicht allein mit Toren und Gegentreffern. Und warum er in einem Atemzug mit dem Wundermann Sundermann und dem Magier Magath genannt werden muss, ebenso wenig.

Die einfachste Begründung für die lange Verweildauer ist zunächst schlicht und ergreifend: Matarazzo hat als Chefcoach alle ausgegebenen Ziele erreicht. Aufstieg, Klassenverbleib, Klassenverbleib. So lautet die nüchterne Bilanz des Mathematikers nach knapp drei Jahren. Das Problem dabei ist, dass rund um den Wasenclub häufig die Sehnsucht nach den guten, alten Zeiten mitschwingt. Der VfB war einst ein Spitzenverein, und Trainer wie Daum schickten Siegermannschaften auf den Platz. Die Teilnahme am internationalen Geschäft gehörte zum Selbstverständnis – und geriet die Vorgabe in Gefahr, wurde der Trainer gewechselt.

Wie ist die Arbeit des Trainers zu bewerten?

Die Realität des VfB stellt sich seit Jahren jedoch anders dar. Der stolze Traditionsclub von 1893 kämpft gegen den Abstieg. Wieder und wieder. Zweimal stürzte er seit 2016 gar ab. Trainerentlassungen inklusive. Doch wer die Arbeit Matarazzos beurteilen will, sollte miteinbeziehen, welche Mittel und Möglichkeiten ihm zur Verfügung stehen. Ansonsten verrutscht der Maßstab, weil die Stuttgarter mittlerweile kleine Brötchen backen.

Zum Punkteschnitt gehört demnach der jeweilige Personaletat. Die Zeiten, als die sparsamen Schwaben ihren Stars die üppigsten Gehälter in der Liga zahlten, sind vorbei. Ebenso die Jahre, als man in die sogenannte Champions-League-Falle geriet (hohe Kosten, keine Qualifikation) und nach der Ausgliederung 2017 zur VfB AG noch einmal viel Geld für Routiniers ausgab.

Entsprechend stellt der Sportdirektor dem Trainer jetzt 20 Projekte in den Kader – junge Spieler, die entwickelt werden sollen, damit der VfB zunächst sportlich von ihnen profitiert und später finanziell. Mehrfach ist die Rechnung mit der Marktwertsteigerung schon aufgegangen. Siehe Sasa Kalajdzic und Orel Mangala zuletzt oder Gregor Kobel und Nicolas Gonzalez zuvor. Borna Sosa, Konstantinos Mavropanos und Hiroki Ito verbesserten sich ebenfalls unter Matarazzos Anleitung und gehören noch zum Team.

Doch das Modell mit den Talenten ist auch schon öfters gescheitert. Berufsrisiko in einer Branche, die kurzatmig daherkommt. Das spürt Matarazzo trotz der Rückendeckung durch Mislintat. „Das Vertrauen der Verantwortlichen stärkt einen, und ich hoffe, dass ich noch viele weitere Tage beim VfB bleiben kann“, sagt der Trainer. Dazu benötigt er kurzfristig die passenden Ergebnisse , um mittelfristig Spieler und damit die Mannschaft vorwärtszubringen. Das ist Antrieb und Anspruch. Daran lässt sich Matarazzo messen – unabhängig davon, ob in knapp drei Wochen die nächste VfB-Trainerlegende in der ewigen Rangliste weichen muss. Armin Veh ist dann an der Reihe.