Amelie Humburger in ihrem Büro bei der Lebenshilfe in Vaihingen. Foto: Anna Simon

Schon seit langem weiß Amelie Humburger, dass ihr Herz für die Arbeit mit Menschen mit Behinderungen schlägt. Zunächst arbeitet sie allerdings für ein großes Technik-Unternehmen.

Schon als sie durch den Eingang geht, hat Amelie Humburger das Gefühl, dass es „einfach passt“. Dass die Bewerbung der richtige Schritt für sie ist, ist ihr in dem Moment klar, als sie die Lebenshilfe in Vaihingen das erste Mal betritt. Direkt am Eingang sind auch die Türen zum Bistro Panino und zur Kantine. Der herzliche Empfang der Menschen mit Behinderungen, die hier in der Ernsthaldenstraße arbeiten, die gemütliche Atmosphäre dort, Amelie fühlt sich sofort willkommen.

 

Personalwesen und Menschen mit Behinderungen – für Amelie ist ihre Stelle bei der Lebenshilfe die perfekte Mischung. Die Lebenshilfe ist eine gemeinnützige Organisation, die sich für Menschen mit Behinderungen einsetzt. Dass die gebürtige Esslingerin hier heute ihrem Traumjob nachgehen kann, hätte sie sich 2016 nach dem Abitur nie vorstellen können.

Ein FSJ entfacht ihre Leidenschaft – danach geht es trotzdem zu Mahle

Als sie damals die Schule beendet, will die heute 27-Jährige sich eigentlich bei Mahle, einem Autoteilezulieferer mit Sitz in Stuttgart, für eine Ausbildung zur Industriekauffrau bewerben. Doch dazu kommt es nicht – sie hat die Bewerbungsfrist verpasst. Was nun? Um die Zeit bis zum nächsten Ausbildungsstart zu überbrücken, beginnt sie ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ). Das Jahr in der Rohräckerschule, einer Schule für Kinder mit Behinderungen, ist für Amelie eine prägende Zeit. Ihr wird klar, dass sie einen besonderen Zugang zu Menschen mit Behinderungen hat.

„Da habe ich gemerkt, dass ist meine Leidenschaft“, gibt sie zu. „An einen Moment kann ich mich besonders gut erinnern: Als ich mit einem Jungen im Bällebad war, er unfassbar viel Spaß hatte und einfach nur gestrahlt hat.“ Besonders die Arbeit mit Kindern mit Down-Syndrom macht Amelie Spaß. „Die sind offen und ehrlich, sagen, was sie denken. Da muss ich mich nicht verstellen.“

Dann geht das FSJ zu Ende. Trotz Faible für die Menschen mit Behinderungen entscheidet die gebürtige Esslingerin sich dafür, mit ihrem regulären Plan weiterzumachen und beginnt 2017 die Ausbildung zur Industriekauffrau beim Stuttgarter Automobilzulieferer Mahle. Die Möglichkeit, in einem großen Unternehmen zu arbeiten, das gute Gehalt – die Sicherheit, die ihr Mahle gibt, macht es für sie lange undenkbar, im Sozialen Bereich zu arbeiten. Ihre eigentliche Leidenschaft, die Menschen mit Behinderungen, verliert sie allerdings nie aus den Augen.

„Du siehst heute scheiße aus“

Während ihrer Zeit bei Mahle betreut Amelie ehrenamtlich zwei Menschen mit Behinderungen. „Andere Leute sind nach der Arbeit in den Sport, ich bin mit ihnen für einen Spaziergang in den Wald gegangen. Das war sozusagen mein Hobby.“ Dank 35-Stunden-Woche hat sie zweimal die Woche für „ihre“, wie sie sagt, Menschen mit Behinderung Zeit. Was ihr im Umgang mit Menschen mit Down-Syndrom besonders gefällt? Sie würden kein Blatt vor den Mund nehmen. „Manchmal sagen sie mir: Hey, gut siehst du aus!, manchmal aber auch: Amelie, du siehst heute scheiße aus.“

Nach ihrer Ausbildung wird sie bei Mahle in der Entgeltabrechnung übernommen. 35-Stunden-Woche, ein guter Arbeitsplatz in einem international agierenden Unternehmen, gute Bezahlung – und dennoch erfüllt der Beruf sie nie ganz. Irgendwie ist da eine Leere in ihr, ihr fehlt der Sinn. Die damals 24-Jährige spielt in ihrer Zeit bei Mahle schon länger mit dem Gedanken, etwas zu verändern: Amelie kann sich nie so wirklich mit dem Unternehmen identifizieren – ihr Herz schlägt immer für die Menschen mit Behinderungen. Nach mehreren Jahren beim Automobilzulieferer ist Amelie klar: Etwas muss sich verändern.

Amelie wagt den Sprung und bewirbt sich bei der Lebenshilfe

Ihre Überlegungen sind allerdings von Zweifeln geprägt. Kann sie es wirklich durchziehen? Besondere Unsicherheiten hat sie im Bezug auf das Gehalt. Die Sicherheit, die ihr die gute Stelle bei Mahle bietet, die klar definierten Aufgaben? Von der Wirtschaft kommend in den Sozialen Bereich – natürlich ist das mit Einbußen verbunden. Was ist wichtiger: Sicherheit oder Leidenschaft? Als sie mit dem Gedanken spielt, sich von Mahle wegzubewerben, hat sie beim Thema Geld einige Diskussionen.

2022 ist es dann so weit: Amelie trift eine Entscheidung, die sie einiges an Mut kostet: Sie bewirbt sich aus dem sicheren Job in der Wirtschaft heraus auf eine Minijob-Stelle im Technischen Dienst bei der Lebenshilfe – und wird belohnt. Anstatt nur auf 520-Euro-Basis im Technischen Bereich zu arbeiten, kommt es direkt noch besser: Ihre Bewerbung auf den Minijob kommt so gut an, dass ihr gleich eine Stelle im Personalwesen angeboten wird. Durch ihre Erfahrung bei Mahle im Bereich der Entgeltabrechnungen kann sie überzeugen. „Ich war überglücklich, sprachlos“ , beschreibt die 27-Jährige den Moment, als sie das Angebot bekommt. Personalwesen und Inklusionsarbeit – ein Jackpot für die gebürtige Esslingerin. Seit März 2025 arbeitet sie nun sogar als Stellvertretende Personalleitung bei der Lebenshilfe.

Sozialunternehmen statt freier Wirtschaft

Dort kümmert sie sich um das Personalwesen und macht unter anderem wie bei Mahle die Entgeltabrechnungen – allerdings in einem komplett anderen Umfeld. Anstatt für den international agierenden Automobilzulieferer setzt sie nun ihre Fähigkeiten für ein Sozialunternehmen ein. Die Menschen mit Behinderungen können bei der Lebenshilfe je nach Vorliebe in verschiedenen Arbeitsbereichen mithelfen: „Wir haben ganz viele verschiedene Angebote: Die Werkstätten, eine Gärtnerei, ein Bistro, einen inklusiven Kindergarten“, schwärmt Amelie und sagt mit einem Grinsen im Gesicht „Wir stellen sogar eigene Nudeln her.“

Amelie ist bei ihrem Job mitten im Geschehen. Dafür muss die stellvertretende Personalleiterin heute nur die Treppe hinunter, und schon ist sie direkt im Bistro oder in der Kantine, für Amelie ein Traum. Ein kleiner Plausch mit den Mitarbeitenden hinter der Theke, mal kurz im inklusiven Kindergarten vorbeischauen? Alles möglich. Ihr Büro befindet sich direkt auf dem Gelände der Lebenshilfe.

Im Erdgeschoss hat das Bistro Panino seinen Sitz. Ein gemütlicher, heller Raum mit großer Theke, hinter der die Mitarbeitenden mit Behinderungen unter anderem Gebäck, Tee oder Kaffee verkaufen. Manchmal dauert eine Bestellung zwar etwas länger, dafür kann man sicher sein, dass sie mit größter Sorgfalt angerichtet wird. Daneben ist direkt die Kantine, in der alle, die in der Lebenshilfe arbeiten, zusammen essen. Die offene und freundliche Atmosphäre liebt sie: Dort verbringt Amelie ihre Mittagspause und wird von den Mitarbeitenden regelmäßig enthusiastisch begrüßt.

Amelies Wunsch: Mehr Orte wie das Bistro

Für die Beschäftigten ist ihre Arbeit im Bistro ein Weg zu mehr Selbstständigkeit und zu größerer Teilhabe in der Gesellschaft. Ob mit oder ohne Einschränkungen – hier können Menschen im Alltag aufeinandertreffen. Für die Gäste hat ein Bistro-Besuch noch einen anderen Mehrwert: Er kann helfen, die Scheu vor Menschen mit geistigen Einschränkungen zu nehmen und Stereotypen abzubauen.

Die Inklusion von Menschen mit Behinderungen im normalen Alltag ist für Amelie eine Herzensangelegenheit: „Solche Cafés wie das hier können helfen, den Menschen die Berührungsängste zu nehmen. Ich finde es total wichtig, dass man im Alltag mehr in Kontakt zu Menschen mit Behinderungen kommt.“

Amelie (rechts) mit Menschen von der Lebenshilfe. Foto: /Anna Simon

Die 27-Jährige wünscht sich mehr Orte wie das Bistro der Lebenshilfe, an denen Menschen mit und ohne Behinderungen zusammentreffen. Beispielsweise die inklusive Kindertagesstätte der Lebenshilfe: Hier werden alle Kinder zusammen betreut – ob Behinderung oder keine, das ist egal.

Firmenlauf als Inklusionsarbeit

Neben den verschiedenen Einrichtungen gibt es bei der Lebenshilfe auch ganz besondere Projekte, in denen die Inklusion gefördert wird. Besonders stolz ist Amelie auf den einen jährlichen Firmenlauf, bei dem die Menschen der Lebenshilfe mit dabei sind: Bei dem Event handelt es sich um einen inklusiven Run, bei dem Menschen mit Behinderungen zusammen mit einer Begleitperson mitmachen können. Sogar ihre Familie hatte sie für den Lauf rekrutiert – ein absolutes Herzensprojekt.

Zu sehen, wie ihre Schützlinge über sich selbst hinauswachsen, wie die Teilnehmer erschöpft, aber überglücklich an der Zielgeraden ankommen – für Amelie, die auf jeden Einzelnen wartet, ist das einer ihrer stolzesten Momente.

„Wir sind alle normal!“

Das ist genau das, was sich die 27-Jährige sich für ihre Arbeit wünscht: „Mehr Aufmerksamkeit für den Sozialen Bereich“, mehr Akzeptanz für „ihre“ Menschen mit Behinderungen. „Mehr Wertschätzung“, auch auf das Finanzielle bezogen. Mehr Begegnungsorte, an denen Menschen mit und ohne Behinderungen aufeinander treffen können. Besonders wichtig: das die Hemmschwellen zwischen Menschen mit und ohne Behinderungen weniger werden.

Erzählt sie von ihrer Arbeit, hört sie manchmal diesen einen Kommentar: „Ich könnte das ja nicht“. Für Amelie ist das ein Ansporn, die Inklusion noch weiter voranzutreiben und mehr Wertschätzung für den Sozialen Bereich zu fordern. „Für mich gibt es keinen Unterschied zwischen Leuten mit Behinderungen und „normalen“ Menschen. Wir sind alle normal!“

Amelies Rat: „Alles wird gut!“

Hätte sich die damalige Amelie nach dem Abi vorstellen können, welche Richtung ihr Leben einschlagen würde? „Ganz klar, Nein!“ , antwortet sie auf die Frage.

Ihrem jüngeren Ich würde Amelie raten, sich keine Sorgen zu machen und den Dingen zu vertrauen. Die verpasste Bewerbungsfrist war schließlich auch irgendwie Schicksal.

Ihr wichtigster Rat an alle, die einem Traum haben, aber zögern, ihm zu folgen: Mutig sein. Denn wie Amelie selbst erfahren hat – es zahlt sich aus.