Horst Bohne (li.) vom Schwäbischen Albverein und sein Stellvertreter Lothar Grammsind erprobte Wanderführer und im Umgang mit Demenz geschult. Foto: Leif Piechowski

Demenz grenzt aus, doch nicht jedes Hobby muss auf der Strecke bleiben. Der Schwäbische Albverein nimmt Erkrankte an die Hand und führt sie in überschaubaren Etappen auf dem Rössleweg rund um Stuttgart. Für Betroffene und Angehörige haben die Wanderungen einen heilsamen Effekt.

Stuttgart - Der Neckar hat an diesem Herbsttag eine braune Färbung. Auf der Oberfläche dümpeln welke Blätter. Es nieselt. Es scheint, als würde Volker Lenz (alle Namen der Betroffenen geändert) das alles nicht bemerken, er hat nur den Weg im Blick. Wenn die kleine Wandergruppe stehen bleibt, ist er irritiert. So, als würde er zu sich kommen und sich fragen: Wo bin ich? Dann fragt er nach seiner Frau. Lenz ist einer von fünf demenzkranken Menschen, die einmal im Monat mit dem Schwäbischen Albverein wandern gehen. Mit dabei sind Wanderführer, Betreuer, Angehörige.

Demenz schnürt den Aktionsradius eines Menschen ein und macht unselbstständig. Seine Betreuung kann hervorragend und liebevoll sein, aber sie ersetzt nicht den Kontakt, den ein Mensch zuvor mit seiner Reisegruppe oder seinen Freizeitfußballern hatte.

„Menschen mit Demenz können keine neuen Hobbys mehr aufbauen und in die alten nicht zurückkehren“, sagt Peter Wißmann, der die kleine Wandergruppe regelmäßig begleitet. „Deshalb haben wir uns überlegt, wie wir die Leute wieder in einen Sport integrieren können.“ Wißmann ist einer der Geschäftsführer des Demenz Support mit Sitz in Stuttgart. „Wir wollen beweisen, dass Bewegung und Geselligkeit Auswirkungen auf die geistigen Kapazitäten haben und das Angebot ausweiten.“

Dafür suchte er Partner. Vereine, die eine Sportart anbieten, der Demenzkranke gewachsen sind. Beim Schwäbischen Albverein und der Ortsgruppe Stuttgart fand er mit Horst Bohne einen Wanderführer, der sich für dieses spezielle Angebot schulen ließ.

Teilnehmer können an vielen Punkten in Bus, Stadtbahn oder S-Bahn einsteigen und Tour abkürzen

Mit festem Schritt geht Bohne voran auf dem Rössleweg, den er für die Ausflüge ausgesucht hat. Er erstreckt sich rund um Stuttgart, folgt teilweise dem Neckar, führt heute durch Weinberge und streift Bad Cannstatt. „Die erste Etappe haben wir im April gemacht, und jeden Monat kam eine weitere dazu“, sagt er. „Der Weg ist nah an der Stadt, für alle gut erreichbar“, sagt Bohne. Die Teilnehmer können an vielen Punkten in Bus, Stadtbahn oder S-Bahn einsteigen und die Tour abkürzen. „Die Anfahrt auf die Schwäbische Alb wäre viel zu weit für unsere Teilnehmer.“

Sie kommen mit Partner, mit Freunden oder werden von ihren Partnern gebracht und abgeholt. Petra Raditsch begleitet Volker Lenz. Sie hat sich bei ihm untergehakt, und wenn seine Schritte langsamer werden, fragt sie ihn etwas, um ihn wieder ins Hier und Jetzt zu holen. „Wir gehen da drüben die Treppen hoch“, sagt sie. Das beruhigt Volker Lenz, er zieht das Tempo wieder nach vorn.

Petra Raditsch bietet auf den Fildern Sport für Demenzkranke an, berät Angehörige und betreut die Familien. „Volker ist in meiner Sportgruppe. Er erzählt seiner Frau sehr viel davon“, sagt sie. Die Bewegung täte ihm gut. „Seine größte Angst ist, nicht mehr abgeholt zu werden. Deshalb begleite ich ihn beim Wandern.“ Freiwillig.

Paul Malec hat sich an dem Tag spontan entschlossen mitzukommen, als er von der Wanderung erfuhr. „Ich habe früher mit Volker Tennis gespielt, er war ein guter Spieler“, sagt er. „Dann ist mir aufgefallen, dass er plötzlich sehr verunsichert war, seit einiger Zeit weiß er nicht mehr, dass wir früher zusammen Sport gemacht haben.“ Er selbst sei Rentner und wandere einfach gern.

Gute Resonanz auf Angebot des Albvereins

Drei bis fünf demenzkranke Menschen gehen seit Beginn der Wanderungen auf dem Rössleweg regelmäßig mit. Heute hat das Wetter einige abgeschreckt, und so ist außer Herrn Lenz nur noch Paul Berenz dabei. „Er spricht nichts“, sagt Wißmann. Also erzählt ihm der Sozialpädagoge hin und wieder etwas, hält ihn zurück, um auf den Rest der Gruppe zu warten. Paul Berenz hält sich an Wißmann und beobachtet dann geduldig, wie sich die anderen nähern. Wenn sich Wißmann wieder in Bewegung setzt, geht Paul Berenz auch voran.

Die Gruppe hat die Weinberge am Zuckerbergweg erreicht. Volker Lenz’ Blick bleibt an den Reben und den späten Sommerblumen hängen. Als sei er überrascht, was sich seinen Augen bietet.

Die Resonanz auf das Angebot des Albvereins sei gut: Eine Angehörige habe erzählt, dass ihr Mann „total glücklich und aufgelöst nach Hause gekommen sei, zufrieden war und gelächelt habe“, erzählt Wißmann.

„Für uns war das alles neu“, sagt Wanderführer Horst Bohne, „aber auch ich werde älter und ich weiß, dass einem eine solche Diagnose den Teppich unter den Füßen wegzieht.“ Außerdem: „Unter den Albvereinsmitgliedern gibt es ja auch Leute mit dementen Angehörigen.“ Ohne Betreuer aber lasse sich das Angebot kaum aufrechterhalten, weil die Auswirkungen von Demenz so vielfältig seien. Der Stuttgarter Demenz Support sucht nach einer Möglichkeit, Begleitpersonen zu entschädigen.

An der Stadtbahnhaltestelle Obere Ziegelei in Bad Cannstatt muss die Gruppe die Hauptstraße überqueren. Volker Lenz blickt irritiert um sich. Die kleine Unterbrechung verunsichert ihn. Petra Raditsch beruhigt ihn: „Wir gehen jetzt zum Mittagessen.“ Das versteht er. Nach seiner Frau fragt er nicht.

Info zur Wandertour

Über die Winterzeit möchte Demenz Support geführte und begleitete Stadtspaziergänge anbieten. Geplant sind außerdem Einzeltouren mit dem Fahrrad, wofür eine Kooperation mit dem ADFC angestrebt wird.

Der Rössleweg wird am kommenden Donnerstag, 31. Oktober, in zwei Etappen abgeschlossen. Anmeldung bei Demenz Support unter Tel. 07 11 / 9 97 87-0.