Am Tatort in Köngen haben Passanten Blumen und Kerzen niedergelegt Foto: dpa

Vor zwei Wochen irrt eine Mutter über die A 8. Sie soll ihre Tochter erstochen haben. Jetzt schockiert das nächste mutmaßliche Familiendrama mit zwei toten Mädchen den kleinen Ort Köngen. Solche Fälle stellen selbst erfahrene Psychiater häufig vor Rätsel.

Köngen - Immer wieder nur die eine Frage: Warum? Dieses eine Wort steht auf dem Plüschtier, das vor dem Haus in einem Gewerbegebiet von Köngen im Kreis Esslingen liegt. Es ist auf das Blatt Papier geschrieben, das auf einem Foto zwei fröhlich lachende Mädchen zeigt. Daneben stehen Kerzen, flackern Grablichter, sind Engel und ein Papierschiffchen abgelegt. Und immer wieder diese eine Frage: Warum?

Das Haus am Rand von Köngen ist am Montag zu einem viel besuchten Ort geworden. Kamerateams kommen und gehen. Bürger der 9600-Seelen-Gemeinde bringen Rosen und Kerzen. Tags zuvor ist hier Schreckliches geschehen. Um 14.30 Uhr wählt eine 41 Jahre alte Frau den Notruf. Als die Polizei in der Wohnung im ersten Stock des Hauses im Industriegebiet eintrifft, findet sie die sieben und zehn Jahre alten Töchter der Anruferin. Die beiden Mädchen sind tot. Die Frau finden die Beamten leicht verletzt und blutbeschmiert in einem benachbarten Garten. Sie wird unter dringendem Tatverdacht festgenommen. Anwohner berichten, sie sei zuvor völlig verzweifelt über die Straße gewankt. Der Vater der Kinder ist zu diesem Zeitpunkt offenbar nicht zu Hause – er kommt erst später hinzu.

Motive unklar, liegen wohl im persönlichen Bereich

Ob die Mutter versucht hat, sich selbst umzubringen, wollen die Ermittler am Montag noch nicht öffentlich machen. „Wir konnten die Frau bisher noch nicht vernehmen“, sagt Polizeisprecherin Andrea Kopp. Die Motive seien unklar, lägen aber wohl im persönlichen Bereich. Die Behörden gehen weiterhin davon aus, dass die Mutter ihre Kinder getötet hat. Am Dienstag sollen die Leichen obduziert werden.

Zunächst will die Stuttgarter Staatsanwaltschaft am Montag die Unterbringung der Mutter in einer psychiatrischen Klinik beantragen, um sie umfassend untersuchen zu lassen. Doch das ändert sich im Lauf des Tages. „Nach ausführlicher Prüfung des Sachverhalts“ läuft der Antrag doch auf die Ausstellung eines normalen Haftbefehls hinaus. Ein Stuttgarter Richter gibt ihm am Nachmittag statt. Offenbar gibt es Zweifel an einer Schuldunfähigkeit. Die 41-Jährige sitzt deshalb seither nicht in einer Klinik, sondern in einem Gefängnis.

Köngen steht am Tag nach der Bluttat unter Schock. Und zugleich im Mittelpunkt des Interesses. Fernsehen, Radiosender, Zeitungen aus ganz Deutschland reisen an. „Alle sind da“, sagt Otto Ruppaner gefasst. Es gibt deutlich dankbarere Momente für einen Bürgermeister, als immer wieder nach dem Grund für das Unerklärliche gefragt zu werden. „Es ist eine große Tragödie“, sagt Ruppaner, der am Sonntag selbst zum Tatort geeilt ist. Die Betroffenheit in der Gemeinde sei groß. „Es ist schwer in Worte zu fassen“, sagt der Bürgermeister kopfschüttelnd, „man versteht einfach das Warum nicht.“ Eines allerdings ist sicher: Die Familie ist weder vom Jugendamt betreut worden noch sonst jemals in irgendeiner Weise negativ behördlich aufgefallen. Nachbarn sprechen von einer Musterfamilie.

Trauerbewältigung auf dem Stundenplan

An den beiden Schulen im Ort, die die Mädchen besucht haben, steht am Montagmorgen Trauerbewältigung auf dem Stundenplan. Lehrer informieren die Klassenkameraden, der schulpsychologische Dienst betreut die Kinder bis auf weiteres. „Sie haben es einigermaßen gefasst aufgenommen“, berichtet Ruppaner. Einer der Schulleiter lässt einen Trauerraum mit Kondolenzbuch einrichten, in der anderen Schule werden Kerzen entzündet.

Bis alle die Nachricht verwunden haben, wird es dauern. Besonders beim Vater der toten Mädchen. „Wir und die Schulen haben Kontakt zu ihm“, sagt der Bürgermeister, „aber man muss ihm jetzt erst einmal Zeit lassen.“ Bis dahin soll auch nicht entschieden werden, ob die Gemeinde eine Trauerfeier oder einen sonst wie gearteten öffentlichen Abschied organisiert.

Sollten sich die ersten Ermittlungen bestätigen, erinnert der Köngener Fall frappierend an eine Tragödie, die sich erst zwei Wochen zuvor an der A 8 abgespielt hat. Bei Nellingen auf der Schwäbischen Alb irrte nachts eine 36 Jahre alte Frau auf dem Mittelstreifen der Autobahn umher. Blutverschmiert und mit einem Messer in der Hand. In ihrem Auto in der Nähe fand die Polizei die beiden Kinder der Frau. Das elfjährige Mädchen war durch zahlreiche Messerstiche getötet worden, der zwei Jahre alte Sohn überlebte schwer verletzt. Der Vater der Kinder sitzt derzeit in der Schweiz im Gefängnis. Auch diese Familie war den Behörden an ihrem Wohnort im Kreis Göppingen zuvor nicht aufgefallen. Die Mutter hat die Tat gestanden und ist in der Psychiatrie untergebracht. Bis zum Vorliegen eines Gutachtens gilt sie als schuldunfähig.

Im Raum Stuttgart haben Mütter die Väter als Täter abgelöst

Doch auch Ärzte und Wissenschaftler können nicht immer Licht ins Dunkel bringen. Oft bleiben die Hintergründe für solche Taten rätselhaft. „Es gibt nicht die eine Mutter, die ihre Kinder tötet“, sagt ein erfahrener Experte für forensische Psychiatrie. Die Motive seien völlig unterschiedlich und reichten von Depressionen über die schwere Psychose mit der Vorstellung, die Kinder vor Außerirdischen retten zu müssen, bis hin zu ganz egoistischen Gründen. Etwa dann, wenn der Ex-Partner die gemeinsamen Kinder nicht bekommen soll.

Allen Fällen gemeinsam, so der Fachmann, sei lediglich, dass die Mütter „in einer sehr verzweifelten Situation stecken“. Oft gehe es dabei um den sogenannten erweiterten Suizid – man plant den eigenen Tod und will die Kinder mitnehmen. Der Versuch, nach der Tötung der Kinder dann selbst aus dem Leben zu scheiden, erfolge allerdings „mal mehr, mal weniger ernsthaft“. Dieses Phänomen hat es laut dem Experten schon immer gegeben. Merkwürdig sei allerdings, dass gerade im Großraum Stuttgart bis vor etwa zehn Jahren häufig Väter betroffen gewesen seien, während zuletzt ausschließlich Fälle mit Müttern eine Rolle spielten.

Der Blick in die Abgründe, die hinter einem solchen Drama stehen, fällt selbst den erfahrensten Fachleuten schwer. „Mir geht es da wie allen anderen Menschen: Das fehlende Begreifen habe ich in vielen Fällen auch“, sagt einer von ihnen. Selbst wenn alles psychiatrisch durchleuchtet sei, finde man keine Erklärung: „Manches bleibt für immer unbegreiflich. Da blickt man in ein tiefes schwarzes Loch.“

Vor dem Haus im Industriegebiet legen zwei Passantinnen Blumen ab. Sie haben Tränen in den Augen. Dabei kennen sie die Familie noch nicht einmal persönlich. „Hier in Köngen, unglaublich“, sagen sie erschüttert. Und: „Warum?“ Da ist es wieder, dieses eine Wort, das alle umtreibt.

Fälle von Kindstötung

Fälle von Kindstötung

Eine Mutter aus Köngen im Kreis Esslingen wird verdächtigt, ihre beiden Töchter getötet zu haben. Solche Fälle kommen immer wieder vor und lösen häufig große Fassungslosigkeit aus. Wir dokumentieren einige Fälle der vergangenen Jahre:

Oktober 2014: Eine 36-Jährige soll ihre elf Jahre alte Tochter mit mehreren Messerstichen getötet haben. Nachdem die Frau mit einem Messer in der Hand und blutverschmiert auf der Autobahn 8 bei Nellingen (Alb-Donau-Kreis) gesehen worden war, entdeckte die Polizei die Leiche des Kindes und den lebensgefährlich verletzten Bruder im Auto, das in einer Unterführung an der Autobahn abgestellt war.

Dezember 2013: Eine Dreijährige aus Hamburg soll kurz vor Weihnachten 2013 in der Wohnung ihrer Eltern an den Folgen von Misshandlungen gestorben sein. Die 27-jährige Mutter steht wegen Mordes vor Gericht.

April 2013: Eine Mutter im sächsischen Plauen erstach im Wahn ihre neun Jahre alte Tochter mit 65 Stichen einer Schere in Brust, Hals und Kopf. Das Mädchen war erst sieben Wochen zuvor aus einem Kinderheim zur Mutter zurückgekehrt, die das Sorgerecht beanspruchte.

März 2013: Weil sie fünf ihrer Babys getötet hat, muss eine Mutter aus Husum (Schleswig-Holstein) für neun Jahre ins Gefängnis. Die damals 29-Jährige brachte die Kinder zwischen 2006 und 2012 zur Welt und tötete sie direkt nach der Geburt durch Ersticken, mit einer Schere und durch in den Mund gepresste Blätter.

Februar 2013: Eine Frau aus dem bayerischen Aschaffenburg soll im Wahn ihre zwei kleinen Töchter in der Badewanne ertränkt haben. Vor Gericht attestierte ein Gutachter der Mutter eine schizophrene Psychose. Die Frau habe gedacht, ihre Kinder würden missbraucht.

Februar 2013: Mit einem Küchenmesser soll eine damals 24-Jährige ihr zwei Monate altes Baby in Garmisch-Partenkirchen (Bayern) erstochen haben. Der Vater des Kindes hatte zur Tatzeit geschlafen. Er fand das leblose Mädchen mit der Mutter im Wohnzimmer.

November 2012: Eine Mutter aus dem bayerischen Freising erdrosselte ihre sechsjährige Tochter und tötete anschließend auch ihre neugeborenen Zwillinge. Nachdem sie den Entschluss gefasst habe, selbst zu sterben, habe die Frau auch den Tod der Kinder geplant. Als Gründe für die Tat wurden vor Gericht Überforderung, finanzielle Probleme und der Lebenspartner in der Psychiatrie genannt.

Februar 2012: Im pfälzischen Landau hat eine zur Tatzeit 34-Jährige ihren acht Jahre alten Sohn erstochen. Polizisten fanden den Jungen tot in seinem Bett, ein Notarzt konnte nicht mehr helfen.

Juni 2011: Eine verwirrte damals 41 Jahre alte Mutter tötete in der Nähe von Stade in Niedersachsen ihre drei und fünf Jahre alten Töchter. Sie gab ihnen zuvor Schlafmittel und sagte später, eine innere Stimme habe ihr befohlen, die Mädchen umzubringen.

September 2010: Eine Mutter tötet in Lorch (Ostalbkreis) ihre beiden Kinder und sich selbst. Der Vater findet die Leichen im Badezimmer.