Mit einer Choreografie zu Steve Reichs „Violin Phase“ ist das Esslinger Tonart-Festival eröffnet worden. Foto: Ines Rudel

Das Tonart-Festival für zeitaktuelle Musik in Esslingen will zeigen, dass Amerika kulturell viel mehr zu bieten hat als einen merkwürdigen Präsidenten.

Esslingen - Eine Choreografie zu Steve Reichs „Violin Phase“, eine musikalisch-performative Auseinandersetzung mit den Anschlägen von 9/11 von Georg Wötzer, eine Suite von John Cage, virtuose akustische Forschungsreisen ins Innere des Flügels von Henry Cowell und Michelle A. Magalhaes – die Macher des Tonart-Festivals haben allerhand Multimediales zum Auftakt des Festivals in der gut besuchten Esslinger Dieselstraße geboten. „America“ lautet das Motto und soll das Publikum nachdrücklich daran erinnern, dass Amerika kulturell viel mehr zu bieten hat als einen Präsidenten mit dem Gebaren und der Sprachkraft eines Sechstklässlers und die Notwehr der „Black Lives Matter“-Aktivisten gegen Rassismus und Polizeiwillkür.

Transatlantische Tauschverhältnisse

Henry Cowell, John Cage, Steve Reich – entlang dieser Eckpfeiler einer emphatischen Moderne des 20. Jahrhunderts machte das Auftaktprogramm deutlich, wie stark der Einfluss der US-amerikanischen Avantgarde auf die europäische Kultur veranschlagt werden muss. Wobei auch mehrfach nicht zu überhören und zu übersehen war, dass auch hier stets mit transatlantischen Tauschverhältnissen und Traditionen zu rechnen ist. Etwa wenn in Gregor Wötzers performativer Komposition „The Attack“ ein reflektierter Rückbezug auf Brahms gewissermaßen als Fundament einer möglichen Verständigung nach der Erfahrung des Terrors dient.

Oder wenn Henry Cowells frühe Arbeit mit dem präparierten Flügel den Titel „Aeolian Harp“ trägt. Das Provokative und Spielerische der Arbeiten von John Cage oder Steve Reich mag mittlerweile längst historisch und kanonisch geworden sein. Aber gerade, wenn man an die in der Dieselstraße regelmäßig stattfindenden anspruchsvollen Jazzkonzerte denkt, dann wird deutlich, wie sehr der Einfluss dieser Kompositionen in der zeitgenössischen Improvisation fortwirkt.

Am Eindrucksvollsten zeigte dies die Pianistin Neus Estarellas in ihrer umwerfenden Performance von Magalhaes subtiler Komposition „Mobile für präpariertes Klavier“, die problemlos auch als freie Improvisation etwa eines Matthew Shipp durchgegangen wäre. Überdies, auch dies gut zu beobachten, zeichnete sich das übrigens durch Krankheit und Tief „Friederike“ etwas improvisierte Programm durch eine Publikumszugewandtheit, durch ein Augenzwinkern mit dem Populären aus.

Eitler Kater zu Liszt-Begleitung

Seien es die Projektion der Partitur bei John Cages „Aria for Voice“ oder auch Joe Michaels kreative Auseinandersetzung mit dem Inhalt des berühmten „Tom & Jerry“-Cartoons „The Cat Concerto“ (1946), der auch zu sehen war. Im Original spielt der eitle Kater die „Ungarische Rhapsodie Nr.2“ von Franz Liszt mit Orchesterbegleitung, während Michaels als Solo-Pianist die der „lustigen“ Trickfilmhandlung innewohnende Gewalt geradezu herauspräparierte, wodurch auch eine stimmige Klammer zum eröffnenden „The Attack“ gelang.

Dieser einnehmend kulinarische Auftakt des Esslinger Tonart-Festivals macht jedenfalls Lust auf viel mehr „America“. Am Sonntag, 21. Januar, um 18 Uhr ist in der Dieselstraße ein Perkussionskonzert mit Stücken von Morton Feldman bis Tom Waits geboten, am Samstag darauf präsentiert der Pianist Stefan Litwin die legendär virtuose Komposition „The People United Will Never Be Defeated“ von Frederic Rzewski. Dabei handelt es sich um Variationen über ein Protestlied aus der Zeit des von den USA initiierten und finanzierten Militärputsches in Chile 1973. Auch das ist „America“.