Karl Kardinal Lehmann starb am Sonntagmorgen im Alter von 81 Jahren. Foto: dpa

Über Jahrzehnte war Karl Kardinal Lehmann die prägende Gestalt der katholischen Kirche in Deutschland. Bestens vernetzt und offen für den Dialog war er nach allen Seiten, auch und besonders gegenüber der evangelischen Kirche. Mit 81 Jahren ist Lehmann nun gestorben.

Mainz - In den letzten Jahren, aber erst dann, ist ihm viel Genugtuung zuteil geworden. Zeit seines Lebens hatte Karl Lehmann gekämpft für eine offenere Kirche, mit der Kraft des theologischen Arguments, „mit zäher Geduld und heiliger Ungeduld“, wie er selbst sagte. Rück- und Magenschläge musste er einstecken in Menge. Dann, vor fünf Jahren, kam Papst Franziskus und mit ihm das, was Lehmann sich immer gewünscht hatte: Franziskus hob den Deckel von so vielen ideologisch verfestigten Denk- und Redeverboten; einen „neuen Geist der Freiheit“ verspürte Lehmann. Plötzlich sah er lehramtlich und von der Weltkirche unter anderem genau das abgesegnet, wofür er zwei Jahrzehnte zuvor eine harte Abfuhr aus Rom bezogen hatte, ein Symbolprojekt für kirchliche Nähe auch zu Menschen, die am Dogma gescheitert sind: die Möglichkeit nämlich, dass auch Katholiken in zweiter Ehe zu Beichte und Kommunion gehen dürfen. In Triumphgeheul verfiel der Mainzer Kardinal trotzdem nicht. Trocken sagte er: „Es lohnt sich, beharrlich zu bleiben.“

Als „Prellbock“ zwischen dem Vatikan und der Kirche in Deutschland hat man Lehmann häufig bezeichnet; was er selbst an Frustrationen auszuhalten hatte, ließ er sich nicht anmerken. Ihm ging es unverdrossen darum, das Evangelium, das Denken der Kirche einzubringen in die gesellschaftlichen, die politischen Diskussionen in Deutschland: Lehmann tat es werbend, in Form von Denkanstößen und Mahnungen, hinterfragend, nicht oberlehrerhaft. Er wollte Türen offen, das Gespräch in Gang halten. Das Poltern gegen den Zeitgeist, das Verurteilen, die Frontstellung gegen alles Neue – das war sein Stil nicht. Das taten andere: der Kölner Kardinal Joachim Meisner (gestorben im Juli 2017) machte gerade daraus sein Markenzeichen.

Meisner und Lehmann – das waren die Antipoden in der Deutschen Bischofskonferenz, die Lehmann mehr als zwanzig Jahre lang führte, von 1987 bis zum krankheitsbedingten, allerdings überraschenden Rücktritt 2008. Dreimal haben die deutschen Oberhirten ihn wiedergewählt, am Ende war Lehmann länger im Amt als alle seine Vorgänger seit 1945. Die Bischöfe fanden einfach keinen anderen, der erstens die viele Arbeit erledigen wollte, zweitens die verschiedenen Flügel und Gemüter so gut zusammenhalten, vertreten und für sie die Kastanien aus dem Feuer holen konnte wie er. Drittens war Lehmann unter den deutschen Bischöfen auch noch das theologische Schwergewicht, eine Autorität wie sonst nur die nach Rom abgezogenen Joseph Ratzinger und Walter Kasper.

Als Arbeitstier wenigstens schätzte man Lehmann auch im Vatikan: Nur er hatte die Fähigkeit und Zähigkeit, bei Bischofssynoden die Meinungen der jeweils mehr als 200 Teilnehmer in nächtelanger Arbeit auf den Begriff zu bringen und in bündige Abschlussdokumente zu gießen. Römische und deutsche Intrigen allerdings verhinderten lange, dass Lehmann den Kardinalshut erhielt, und als er 2001 endlich an die Reihe kam, geschah dies auf peinliche Weise: Johannes Paul II. hatte die Liste der zu Ernennenden schon öffentlich verkündet; erst danach fiel ihm auf, dass da einer wieder mal „vergessen“ worden war, und er holte nach. Lehmann schluckte auch das.

Es gibt wenige aktuelle Themen, zu denen sich der Mainzer Kardinal in seinen zahllosen Vorträgen und den mehr als tausend Büchern und Aufsätzen nicht geäußert hat. Er sprach über die Rolle der Kunst ebenso wie über brennende Fragen der Bioethik, über wirtschaftliche und soziale Fragen auch – schließlich hatte er es in seinem Bistum auch mit den Bankern und den Brokern aus Frankfurt zu tun.

In deren Welt war Lehmann genauso vernetzt wie in der Politik. Mit der Bundesärztekammer redete er ebenso wie mit dem Bundesverfassungsgericht. „Es schadet der politischen Kultur in Deutschland nicht, zu sehen, dass auch Katholiken denken können und dass sie bis zu ihren höchsten Vertretern auf eine ethisch sensible und spirituell aufgeschlossene Rationalität setzen, die sich in einer pluralistischen Demokratie verständlich machen kann“, sagte der Bochumer Theologe Thomas Söding bei der Feier zu Lehmanns 80. Geburtstag.

Das war am 16. Mai 2016. Für den schwer knie- und herzgeplagten Lehmann bedeutete der Termin auch, altershalber Abschied nehmen zu müssen vom Bistum Mainz, das er seit 33 Jahren geführt hatte, als dienstältester Bischof Deutschlands. Zuvor war Lehmann – geboren in Sigmaringen als Sohn eines Lehrers und einer Buchhändlerin – zwölf Jahre lang Professor für Dogmatik an der Universität Freiburg. Promoviert hatte er auch noch in Philosophie: über Martin Heidegger. Und sein theologisches Rüstzeug hatte er sich in München und Münster als Assistent des großen Karl Rahner erarbeitet – im Geiste der großen Öffnung von Kirche und Theologie zur Zeit des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-65).

Den öffnenden Geist will Papst Franziskus heute erneuern; das Korsett einer konservativen Berufung auf ein unbarmherzig starres, „unveränderliches“ Dogma will er sprengen. Lehmann fand sich in der Aufbruchstimmung des praktisch gleichaltrigen Papstes sofort wieder. Auf die Forderung auch aus konservativen deutschen Bischofskreisen, die Theologie müsse sich wieder mehr „am Lehramt der Kirche“ orientieren – wobei solche Leute mit „Lehramt“ nicht Franziskus meinen, sondern das, was vor ihm war –, sagte Lehmann: „Das sind Debatten von vorgestern. Heute geht es viel mehr um die Frage, was wir in einer Welt zu sagen haben, der Glaube und Religion fremd werden.“

Besonders engagiert aber hat sich Lehmann im Gespräch mit den evangelischen Kirchen. Die gemeinsame katholisch-lutherische „Erklärung zur Rechtfertigungslehre“, unterschrieben 1999 in Augsburg, ist auch sein Werk. Ohne diese faktische Aufhebung alter, kirchentrennender Argumente wären die verbindenden und zukunftsweisenden Reformations-Gedenkfeiern des Lutherjahres 2017 nicht möglich gewesen. Hartnäckig und mit seinen breiten Schultern hat Lehmann die Annäherung auch immer wieder gegen kalte Luftstöße aus dem Vatikan abgeschirmt – in den Jahren 2000 und 2007 etwa, als Rom erklären zu müssen meinte, die anderen christlichen Gemeinschaften seien ja überhaupt keine „Kirchen“.

Klerikalismus war dem Mainzer Bischof fremd. Wo andere – ausgerechnet sein theologischer Schüler Gerhard Ludwig Müller als Bischof von Regensburg beispielsweise – die Mitverantwortung der Laienräte in der Kirche beschnitten, da ging Lehmann anerkennend und fördernd auf die Laien zu. Gesprächsprozesse wollte er, Beteiligung. Und auch wenn er keine Chancen sah auf eine Priesterweihe für Frauen – dass es eine eigene Weihe für Diakoninnen werden sollten, das befürwortete er als Theologe durchaus. „Rütteln Sie weiter an den Toren der Kirche!“ empfahl er den Frauen. Was Beharrlichkeit bringen konnte, das hatte er ja am eigenen Leib erfahren.

Lehmanns Wissensdurst, seine umfassende Neugier auf alle Bereiche des Lebens waren legendär. Belesen – auch in abgelegensten Themen – war er wie kaum ein Mensch mehr heutzutage; seine Privatbibliothek umfasst mehr als 100.000 Bände. Doch ein blasser Buchgelehrter – das war Lehmann niemals. Seine robuste Konstitution bewies er gerne auch, wenn’s etwas zu feiern gab. Da war er oft am Abend der erste und in der Nacht der letzte. Dass unter seinen zahllosen gewichtigen Auszeichnungen auch der heitere „Markgräfler Gutedelpreis“ figuriert, kommt nicht von ungefähr. Erzählen konnte Lehmann abendfüllend. Lachen konnte er auch. Und wie! Wer das Glück hatte, dabei zu sein, wird allein das nicht vergessen.