Die Eltern Karl Wilhelm und Ines Klemm trauern um ihren Sohn. Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Nach einem Routineeingriff ist der 40-jährige Nicolas Klemm aus Stuttgart nicht mehr aufgewacht. Trägt hierfür der Facharzt, der den Eingriff durchgeführt hat, die Verantwortung? Einen Strafbefehl wegen fahrlässiger Tötung hatte der Chefarzt nicht akzeptiert. Deshalb kommt der Fall jetzt vor Gericht.

Stuttgart - Nicolas taucht oft unvermittelt auf. Zum Beispiel vorne am Gartenzaun. Wenn Karl Wilhelm Klemm die Zeitung aus der Rolle zieht und dabei eine Delle am Metall berührt. Nicolas’ Delle. Wenige Tage vor seinem Tod war der 40-jährige Sohn mit dem Motorroller versehentlich gegen die Rolle gefahren. Ines Klemm, Nicolas’ Mutter, erfasst der Schmerz des Verlusts hingegen oft in ihrer Küche. Wenn sie kocht, fragt sie sich, ob das auch Nicolas schmecken würde – und ist versucht, zum Telefon zu greifen, um ihn einzuladen. Doch das geht nicht mehr.

Mehr als fünf Jahre sind vergangen, seit der ältere von zwei Söhnen nach einer Bronchoskopie an einem Hirnschaden gestorben ist. Wirklich fassen können es die Klemms bis heute nicht – und die Gründe für seinen Tod machen es ihnen auch nicht möglich, ihren Frieden damit zu schließen. „Er stand doch mitten im Leben. Das alles hier sollte einmal ihm gehören“, sagt Karl Wilhelm Klemm über das schöne Haus in Degerloch. Hier, so hatten sie es sich ausgemalt, sollten einmal die Enkelkinder im Garten spielen. Der jüngere Sohn ist mit Familie in Hamburg, Nicolas wollte in Stuttgart bleiben. Die Eltern haben am 12. Januar 2011 mehr als ein Kind verloren.

Wie ist es zu dem Tod von Nicolas Klemm gekommen – und kann überhaupt jemand dafür verantwortlich gemacht werden? Darüber wird das Amtsgericht Bad Cannstatt befinden. Angeklagt ist ein Chefarzt des Stuttgarter Rot-Kreuz-Krankenhauses. Gegen ihn ist am 21. April 2015 bereits ein Strafbefehl wegen fahrlässiger Tötung in diesem Fall ergangen. 90 Tagessätze sollte der Facharzt zahlen. Doch der Mediziner hält sich für unschuldig. Er habe Einspruch gegen den Strafbefehl eingelegt, bestätigt Pressestaatsanwalt Jan Holzner. Seither warten die Eltern darauf, dass das Hauptverfahren eröffnet wird. Am Ende kann bei dem Fall eine Verurteilung stehen, genauso aber auch ein Freispruch.

Nach der zweiten Biopsie kommt es zu einer Blutung

Was war passiert? Nicolas Klemm hatte seit Monaten Husten mit Auswurf. Seine Lungenärztin schickte den ansonsten gesunden, sportlichen Mann ins Rot-Kreuz-Krankenhaus zur Bronchoskopie. Am 10. Januar 2011 fuhr Klemm für die Untersuchung nach Bad Cannstatt, der behandelnde Chefarzt gilt als Koryphäe. Nicolas’ Mutter, eine Krankenhausärztin im Ruhestand, wollte ihren Sohn danach abholen.

Eine Bronchoskopie gilt als Routineeingriff. Doch diesmal lief es nicht nach Routine. Bei der Untersuchung wurde etwas gefunden, das sich später als gutartiger Tumor herausstellen sollte. Der Arzt entschloss sich offenbar zur sofortigen Probenentnahme beziehungsweise Biopsie über den für die Bronchoskopie gelegten flexiblen Tubus. Ob der Patient zu diesem Zeitpunkt tief sediert war oder unter Narkose stand, was die Anwesenheit eines zweiten Arztes erfordert hätte, ist nur ein Punkt von vielen, um den sich die Gutachter in dem Fall streiten.

Nach der zweiten Biopsie kam es zu einer starken Blutung. Ein Intensiv- und Notfallmediziner wurde hinzugerufen, die Narkosemitteldosis erhöht. Es dauerte 20 Minuten, die Blutung zu stillen. Der Patient musste in dieser Zeit beatmet werden. Der behandelnde Arzt soll auch für die Beatmung den für die Bronchoskopie gelegten Tubus benutzt haben: Es handelte sich um einen flexiblen Tubus, der einen separaten Sauerstoffschlauch hat. Mit hohem Druck, über die sogenannte Jet-Ventilation, wurde Sauerstoff über den zweiten Kanal zugeführt.

Die Atemluft muss wieder entweichen können

Wichtig ist bei der Jet-Ventilation, dass die ausgeatmete Luft wieder aus dem Körper entweichen kann. Der Gutachter der Staatsanwaltschaft glaubt, dass genau das nicht geschehen ist und sich bei Nicolas Klemm aufgrund einer nicht ausreichenden Beatmung die Hirnschädigung ausgebildet hat, die zu seinem Tod führte. Er versteht nicht, warum die Probenentnahme nicht wegen des Blutungsrisikos von vornherein an einem späteren Termin vorgenommen wurde. Dann hätte man für die Biopsie mittels eines starren Tubus beatmen können. Der flexible Tubus soll für die Beatmung per Jet-Ventilation gar nicht zugelassen sein. Die Herstellerfirma selbst äußert sich auf Anfrage nicht eindeutig dazu, ob das eigene Produkt sich für diese Beatmung eignet oder nicht. Die Eltern sind sich aber sicher, dass Nicolas noch leben würde, wäre er mit einem Doppellumentubus intubiert worden: Damit hätte eine Lungenhälfte beatmet werden und auf der anderen Seite die Blutung gestillt werden können.

Sie sind am Tag des Eingriffs mit einer ehemaligen Kollegin der Mutter, einer langjährigen Oberärztin der Anästhesie, ins Rot-Kreuz-Krankenhaus gefahren. Ines Klemm war alarmiert, als sie am Telefon hörte, ihr Sohn sei nicht weckbar. Die drei drängten auf die Verlegung ins Klinikum, als sie abends erfuhren, dass um 19 Uhr angeblich keine CT mehr möglich sei, weil der Computertomograf nicht mehr besetzt sei. Nicolas Klemm ist zwei Tage nach seiner Verlegung ins Katharinenhospital gestorben. Danach landete der Fall bei der Staatsanwaltschaft, weil die Todesursache unklar war.

Andere Gutachten entlasten den Arzt

Der angeklagte Arzt und das Rot-KreuzKrankenhaus äußern sich mit Hinweis auf das laufende Verfahren und weil keine Entbindung von der Schweigepflicht vorliege, nicht zu den Vorwürfen. Doch Gutachten, die der Angeklagte in Auftrag gegeben hatte, entlasten ihn. In diesen ist die Rede davon, dass es aufgrund der starken Blutung nicht möglich gewesen sei, für die Beatmung auf einen anderen Tubus zu wechseln. Der Arzt habe nach den Regeln der ärztlichen Kunst gehandelt: bei der Bronchoskopie und bei dem Versuch, die Blutung zu stillen. Es handle sich um bedauerliche Komplikationen bei einem Routineeingriff. Eine mögliche Ursache für die Hirnschädigung wird darin gesehen, dass Luft in das Gefäßsystem des Patienten eingedrungen sein könnte.

Eineinhalb Jahre sind seit dem Strafbefehl vergangen. Die Eltern verstehen nicht, warum das Verfahren nicht längst eröffnet wurde. Doch der Grund liegt in der medizinischen Expertise. Das Gericht hat nachermittelt, was laut dem Direktor des Amtsgerichts, Andreas Holzwarth, „die Ausnahme“ sei. Die Amtsrichterin habe entschieden, dass es in diesem Fall eines Obergutachtens bedarf, sagt Holzwarth. Das dauere erfahrungsgemäß seine Zeit. Man verwende dasselbe Gutachten, das im parallel laufenden Zivilverfahren am Landgericht in Auftrag gegeben wurde. Im Juni ist dieses Gutachten am Landgericht eingegangen. Nach Informationen unserer Zeitung soll die Expertise eines Lungenexperten aus Hamburg zugunsten des Chefarztes ausfallen. Allerdings soll nach einem entsprechenden Einspruch der Eltern, die wichtige Fragen nicht beantwortet sehen, das Zivilgericht nun eine erweiterte Expertise angefordert haben – das Ringen um die Gutachtenhoheit geht also weiter. Beim Amtsgericht Bad Cannstatt geht man davon aus, dass bald der erste Verhandlungstermin festgelegt werden kann.

Jedes Jahr treffen sich die Eltern am Geburtstag ihres Sohnes mit seinen Freunden am Grab. Es ist ein Ritual, das ihnen guttut. Sonst versuchen sie zu funktionieren, was ihnen schwerfällt. Voriges Jahr rief ihr zweiter Sohn aus Hamburg an: Wenn sie wieder so viel weinten, dürften sie an Weihnachten nicht kommen. Die Trauer belaste die Enkel zu sehr. Die Großeltern fuhren nach Hamburg – und weinten erst zu Hause wieder.