In einer Mainacht im Jahre 1988 finden Passanten unweit des Amsterdamer Bahnhofs einen Toten.

In einer Mainacht im Jahre 1988 finden Passanten unweit des Amsterdamer Bahnhofs einen Toten auf dem Bürgersteig. Man ruft die Polizei. Nachdem der Mann durchsucht worden ist, wird er ins Leichenschauhaus gebracht. In den Taschen kein Ausweis, nichts, was seine Identität verrät. Zwei Tage später wird die Leiche identifiziert. Von einem Freund. Der Tote ist Chet Baker. Einer der berühmtesten Jazz-Trompeter seiner Zeit. Die Untersuchungen ergeben, dass der 58-jährige Musiker auf Konzerttournee war und ein Zimmer im Prins Hendrik Hotel bewohnt hat, in der zweiten Etage. Vieles spricht für eine Selbsttötung. Ein Sprung aus dem Hotelfenster. Baker war heroinsüchtig, ein verzweifelter Mensch und begnadeter Künstler, der seine letzten Augenblicke in einem Hotel durchlebte.

Chet Bakers letzte Reise endete im Prins Hendrik Hotel. Nichts Außergewöhnliches, dafür zentral gelegen. Doch jede Lobby, auch die schäbigste, ist eine Zone des ewigen Dazwischen. Eine Transitschleuse zwischen Ankunft und Abreise, zwischen öffentlichem Raum und intimer Rückzugskammer. Im anonymen Hotelzimmer, fern des tatsächlichen oder abhandengekommenen Zuhauses, wird sich manch einer seiner transzendentalen Obdachlosigkeit bewusst. Und macht Schluss. Wie Chet Baker. Oder der Schauspieler David Carradine, der erhängt in einem Hotelzimmer in Bangkok gefunden wurde. Oder der Rennrad-Profi Marco Pantani, der im Suitehotel Le Rose in Rimini einen Abschiedsbrief schrieb. Oder Heath Ledger. Jimi Hendrix.

Und Janis Joplin. Diese irre Stimme verstummt für immer am 4. Oktober 1970 in Los Angeles im Hotel Landmark. Kurz nach Joplins Suizid ändert die Leitung des Hauses den Namen, es heißt fortan Highland Gardens Hotel. Das ist typisch. Hoteliers mögen nun mal keine Selbstmörder in ihren Zimmern. Offensichtlich wollte man keine Weihestätte für Joplin-Pilger werden.

Man könnte nun als unbeleckter Normalbürger einwenden, die Neigung der abgehobenen Sänger, Sportler und Schauspieler zum effekthascherischen Suizid im Hotel habe etwas mit ihrem unsteten Lebenswandel zu tun. Mit Drogen, Sex und Alkohol. Doch in Las Vegas und der Region sind es gerade die unbekannten Leute, Angestellten, Arbeiter und Touristen wie du und ich, die sich ein Zimmer mieten, um allem ein Ende zu bereiten. Die Stadt der Glücksspiele und Spontanehen weist regelmäßig die höchsten Suizid-Raten in den USA auf. Die dortigen Hotelketten tabuisieren das Thema.

An den Zahlen ändert es nichts: Jeden Monat nimmt sich ein Tourist in der Wüstenstadt das Leben. Plausibel wäre nun die Annahme, bei diesen armen Teufeln handle es sich um Loser, Zocker, die ihren Daseinsmut am Black-Jack-Tisch liegen gelassen haben. Aber dem ist nicht so: "Die Mehrheit der Selbstmorde sind keine Verzweiflungstaten nach einem verlorenen Spiel", sagt die Psychiaterin Paula Clayton, die eine staatliche Einrichtung zur Suizid-Prävention leitet. Gegenüber dem Fachmagazin "Psychiatric News" betont die Wissenschaftlerin allerdings, dass alle Erklärungsversuche reine Spekulation seien.

Für Claytons Kollegen Paul Zarkowski von der Universität Washington (Seattle) sind zumindest zwei Hypothesen denkbar: Die Menschen, die sich in Las Vegas in einem Hotel umbringen, flüchten vor ihren Problemen im Job und in der Familie, kaufen Sex, konsumieren Drogen, betrinken sich, um irgendwann im Rausch allem Adieu zu sagen. Im Grunde teilen sie im Verborgenen das Schicksal der Stars. Das Hotel fungiert als Vorhof zum Paradies, wo man für kurze Zeit, ein erstes und letztes Mal auf null stellt.

Die andere, weniger spektakuläre Erklärung wäre nach den Worten Zarkowskis der Versuch, den Liebsten nicht zur Last fallen zu wollen: Ein Fremder entdeckt den Leichnam, kein Kind, auch kein Ehepartner. Dass Las Vegas bei potenziellen Suizid-Touristen derart beliebt ist, hat sicher etwas mit der Kulissenhaftigkeit der Stadt zu tun, in der man leicht das eigene Ich wie eine abgeschabte Kleinbürgerjacke abstreift und Eros und Thanatos so nah sind wie nirgendwo sonst. Ein Ort ohne Zukunft, ohne Vergangenheit. Einen Sinn für die Poesie amerikanischer Motels hat Mike Figgis. Der britische Regisseur dreht 1997 "One Night Stand", 2001 "Hotel". Doch seinen größten Erfolg hat Figgis mit "Leaving Las Vegas" (1995), einer wundervoll gottlosen Hommage an die Glitzermetropole und ihre Absteigen, mit einem sich zu Tode saufenden Nicolas Cage in der Hauptrolle. Auch hier wird das Hotel zur Metapher für ein verpfuschtes Leben.

Im Vergleich dazu ist der Selbstmord von Chet Baker nur eine Fußnote in der langen Geschichte der morbiden Hotels. Draußen an der Mauer ist eine Gedenktafel mit einer Widmung angebracht, mit seinem Porträt. Eine pietätvolle Geste der Stadt Amsterdam und des Hotels. Wer mutig ist, kann im zweiten Stock im Prins Hendrik Hotel ein Zimmer buchen und wird – wenn er nicht ohnehin eine Seelenlast mit sich herumträgt – eine CD mit Bakers großem Hit "My Funny Valentine" einlegen, daran denken, wie wild das schöne Leben doch sein kann, einen Kamillentee schlürfen und wahrscheinlich bald einschlummern. Jazzer spuken nämlich nicht.