Haben Versäumnisse zum Tod einer sechsjährigen Schülerin der Körperbehindertenschule geführt? Foto: StN

Ein Mädchen ist gestorben. Sechs Jahre alt. Eine Erstklässlerin mit Behinderung. Sie litt an SMA, einer Muskelkrankheit. Die Umstände ihres Todes werfen viele Fragen auf. Sie alle kreisen um das Thema Verantwortung.

Stuttgart - Shanice verbrachte ihr Leben meist im Rollstuhl, betreut von ihrer Mutter, umgeben von zwei kleinen Geschwistern – und in Vorfreude auf die Schule. Sie wollte rechnen und schreiben lernen. Bald werde sie ihrer Mutter selbst Gute-Nacht-Geschichten vorlesen, sagte sie. Im September war Einschulung an der Körperbehindertenschule in Stuttgart-Vaihingen. Bilder zeigen Shanice als stolze Erstklässlerin.

Zuvor hatte sie den benachbarten Schulkindergarten besucht. Dort war man mit ihrer Behinderung vertraut: SMA, Spinale Muskelatrophie. Sie konnte schwer schlucken. Trotz vieler Einschränkungen war sie hellwach. Ein fröhlicher Geist in einem schwachen Körper.

Man wusste: Shanice würde auch jetzt intensive Hilfe benötigen. Beginnend bei der Ankunft auf dem Schulhof. Dort musste die Sechsjährige aus dem Schulbus in den Rollstuhl umgesetzt werden. Fahrer und Begleitperson waren dafür nicht ausgebildet; Mitarbeiter der Schule übernahmen diese Aufgabe. Gegen 8.15 Uhr, eine Viertelstunde vor Schulbeginn, so war es besprochen, würden sie Shanice am Bus abholen. Die ersten drei Tage liefen reibungslos.

Sie hatte Atemnot

Am vierten Tag, dem 20. September, war das Schulpersonal wiederum pünktlich zur Stelle. Der Schulbus stand bereits auf dem Hof. Doch diesmal waren weder Fahrer noch Begleitperson zu sehen. Shanice saß alleine im Bus. Sie war ängstlich, aufgeregt. Speichel rann aus ihrem Mund. Die Schulmitarbeiter setzen sie in den Rollstuhl und versuchten, sie zu beruhigen.

20 Minuten später, im Klassenzimmer, beverschlechterte sich Shanices Zustand plötzlich. Sie hatte Atemnot. Die Krankenschwestern der Schule wurden hinzugerufen. Parallel dazu nahm man Kontakt mit der Mutter auf. Kurz nach neun Uhr wurde der Notarzt alarmiert. Als die Mutter eintraf, waren Ärzte dabei, Shanice wiederzubeleben. Man brachte sie ins Krankenhaus. Am Abend versiegten die Hirnströme. Tags darauf endete ihr kurzes Leben.

So stellt sich der Fall nach den Schilderungen mehrerer direkt oder indirekt Beteiligter dar – wobei sie unterschiedliche Akzente setzen.

Seit langem fordern Eltern höhere Standards bei der Schülerbeförderung

Aus Sicht von Elternvertretern wirft der Tod des Mädchens ein grelles Licht auf Unzulänglichkeiten bei der Schülerbeförderung. Die Tatsache, dass Shanice alleine im Schulbus saß, ist für die Elternbeiratsvorsitzende Anne Siepmann der „Gipfel eines strukturellen Problems“. Seit langem fordern Eltern höhere Standards bei der Schülerbeförderung. Sie kritisieren, dass nicht das Wohl der Kinder im Vordergrund stehe, sondern das Kostendenken. Schon in Zusammenhang mit früheren Anbietern gab es Klagen über eine unzureichende Ausstattung der Busse, häufigen Personalwechsel, Dumpinglöhne und Beförderungszeiten von täglich bis zu dreieinhalb Stunden.

Als unsere Zeitung die Mängel 2010 öffentlich machte, räumte das Stuttgarter Schulverwaltungsamt ein, es gebe Verbesserungsbedarf – ohne auf eine laufende Ausschreibung einzuwirken. Aus diesem Verfahren ging das Offenbacher Unternehmen Sonnenschein als Sieger hervor. Ausschließlich der Preis hatte entschieden. Von Anfang an lag daher ein Schatten auf dem Sonnenschein-Engagement. Elternansprüche und Wirklichkeit klafften weit auseinander. Es dauerte Monate, bis die Mängelliste abgearbeitet und eine für Eltern und Schule akzeptable Situation erreicht war.

Weder Fahrzeugausstattung noch Fahrzeiten sind vertraglich geregelt.

Das Problem lag in der Art der Ausschreibung begründet: Anbieter von Schülertouren können sich darauf berufen, dass ihnen die Stadt wenige Vorgaben macht. So benötigen Fahrer und Begleitpersonen, denen Eltern ihre Kinder anvertrauen, keine spezielle Qualifikation. Im Wesentlichen sieht man in ihnen Transporteure. Weder Fahrzeugausstattung noch Fahrzeiten sind vertraglich geregelt. Ebenso wenig die Aufsichtspflicht. Nur mündlich wird darauf hingewiesen.

Durch den dramatischen Vorfall an der Körperbehindertenschule erhält das Thema aus Elternsicht eine noch größere Dringlichkeit. In einer Sitzung am Dienstagabend waren sich Elternvertreter einig, dass jetzt gehandelt werden müsse. „Es ist unsere Verantwortung als Eltern, unsere Kinder vor solchen Situationen zu schützen“, sagte eine Mutter. Einige hätten Angst, ihre Kinder in den Bussen mitfahren zu lassen.

„Der tragische Todesfall steht in keinem Zusammenhang mit der Beförderung des Kindes durch unser Unternehmen“

Die Elternvertreter dringen auf eine qualifizierte medizinische Schulung von Fahrern und Begleitpersonen. Die Schülerbeförderung müsse endlich einen höheren Stellenwert bekommen. Die Ausschreibung von 122 Schülertouren für die nächsten drei Jahre steht in Kürze an. „Diesmal darf keine Frage offenbleiben“, sagt die Elternbeiratsvorsitzende. Ihr geht es nicht um individuelle Schuld. Siepmann stellt eine grundsätzliche Frage: „Wie viel ist uns die Beförderung von Kindern mit Behinderung wert? Schülerbeförderung bedeutet Betreuung, nicht Transport von Kindern.“ Stadt und Gemeinderat müssten darauf eine Antwort geben.

Sonnenschein hat einen anderen Blick auf die Dinge. Das Offenbacher Unternehmen versichert, die tägliche Beförderung von rund 230 Kinder zu Schulen und Schulkindergärten in Stuttgart erfolge „zuverlässig“. Zu dem Vorfall in der Körperbehindertenschule erklärt Sonnenschein-Sprecherin Ursula Ertel unserer Zeitung: „Der tragische Todesfall steht in keinem Zusammenhang mit der Beförderung des Kindes durch unser Unternehmen. Das Kind wurde von dem Fahrzeug unseres Unternehmens durch die Betreuer der Lehreinrichtung wie üblich in den Klassenraum verbracht.“ Die Frage, ob Aufsichtspflichten verletzt wurden, lässt das Unternehmen unbeantwortet.

Sonnenschein-Mitarbeiter, die namentlich nicht genannt werden wollen, berichten unterdessen, das Ganze sei „unglücklich gelaufen“. Alle Schulbusbesatzungen hätten gewusst, dass Kinder im Fahrzeug nicht unbeaufsichtigt sein dürfen. Das Unternehmen habe zu Schuljahresbeginn ausdrücklich darauf hingewiesen. An jenem Morgen hätten der betreffende Fahrer und die Begleitperson die drei anderen Kinder aus dem Bus in die Klassenzimmer gebracht. Offenbar gleichzeitig. Am Tod von Shanice träfe sie jedoch keine Schuld.

Die Prüfung endete mit einer Einstellungsverfügung

Die Staatsanwaltschaft Stuttgart kommt zum selben Ergebnis. Eine Kausalität zwischen der Abwesenheit der Sonnenschein-Mitarbeiter und dem Tod des Mädchens gebe es nicht, sagte Staatsanwältin Claudia Krauth unserer Zeitung. Die Schulleitung hatte Anzeige erstattet. Untersucht wurde der Vorwurf der fahrlässigen Tötung. Die Prüfung endete mit einer Einstellungsverfügung. Die Ermittler vertreten die Ansicht: Ärztliche Sofortmaßnahmen wären auch dann nicht früher angefordert worden, wenn sich die Sonnenschein-Mitarbeiter im Fahrzeug aufgehalten hätten. Laut Staatsanwaltschaft war Shanice zwei Minuten alleine. 47 Minuten lagen zwischen dem Eintreffen des Schulpersonals am Bus und der Alarmierung des Notarzts.

Unabhängig von der Schuldfrage macht sich Misstrauen breit. „Selbst wenn ein Kind nur eine Minute alleine ist, kann das zuviel sein“, sagt Anne Siepmann. Das Schulverwaltungsamt würde das Kapitel Sonnenschein inzwischen wohl am liebsten schließen. In einer Art Krisensitzung, fünf Tage nach dem Vorfall, wollte Referatsleiter Bruno Plesch von den Sonnenschein-Vertretern wissen, ob das Unternehmen bereit sei, den Vertrag mit der Stadt vorzeitig zu beenden. Sonnenschein lehnte ab. Gegenüber unserer Zeitung kündigte Plesch zusätzliche Stichproben an. Weitere Schritte würden geprüft – auch was die Ausschreibung betreffe.

Mitarbeiter von Sonnenschein fühlen sich indes „an den Pranger gestellt“. Die Schule habe dazu beigetragen, dass in der Öffentlichkeit ein schlechtes Bild des Unternehmens entstanden sei, heißt es aus dem Kreis der Fahrer. Auch an der Schule komme es zu Versäumnissen – bei der Hofaufsicht durch Lehrer oder beim Abholen der Kinder..

Auch Shanices Mutter nimmt das Wort Versäumnis in den Mund

Shanices Mutter ist eine starke Frau. Sie hat ihre Tochter verloren, aber nicht ihre Sprache. Shanice, die am 20. Oktober sieben geworden wäre, sei behindert gewesen, aber keineswegs krank, erzählt sie. Ein Mädchen mit Lebensperspektive. Sie haben von Menschen mit SMA gehört, die 30 seien und älter. An jenem Morgen habe sie „ein gesundes Kind in den Bus gesetzt“. Was genau passiert sei, wisse sie nicht. Möglicherweise habe sich ihre Tochter erschreckt und in etwas hineingesteigert.

Auch Shanices Mutter nimmt das Wort Versäumnis in den Mund. Allerdings nicht in Zusammenhang mit Sonnenschein. Fahrer und Begleitperson dürften Kinder nicht alleine lassen, sagt sie. Das sei klar. Ihnen macht sie dennoch keinen Vorwurf. Das Verhalten der Schule hingegen irritiert sie. Etwa die Tatsache, dass die Schulleitung Anzeige gegen die Sonnenschein-Mitarbeiter erstattete, obwohl sich der Zustand von Shanice erst im Schulgebäude verschlechterte. „Hat man dann sofort reagiert?“ Andere Eltern fragten sich: Wie kommt mein Kind sicher in die Schule? Sie stelle sich die Frage: Wie sicher ist mein Kind in der Schule?

Schulleiter Peter Otto zeigt sich angesichts des Todes von Shanice „fassungslos“: „Das ist das schlimmste Ereignis, das man sich vorstellen kann.“ Die Anzeige gegen Sonnenschein begründet er damit, dass die Schulleitung Klarheit haben wollte – auch angesichts der Befürchtungen von Eltern. Das Schulpersonal nimmt er ausdrücklich in Schutz: „Es wurde rechtzeitig und schnell gehandelt. Dennoch passieren Dinge, die man nicht im Griff hat.“ Otto widerspricht auch dem Eindruck, die Schule habe das Mädchen zu wenig gekannt. Der Übergang vom Schulkindergarten in die Schule sei gut organisiert gewesen, versichert er. Als Konsequenz aus dem Vorfall regt Otto einen Landeplatz für Rettungshubschrauber in Schulnähe an. Notärzte hätten dann noch leichter Zugang. An den Einsatzzeiten allerdings lag es nicht. Kurz nach dem Alarm war der Notarzt zur Stelle.

An diesem Donnerstag ist Elternabend an der Körperbehindertenschule in StuttgartVaihingen. Alle werden da sein, Sonnenschein, das Schulverwaltungsamt, die Elternvertreter. Man wird über Shanice sprechen. Das Mädchen, das fehlt.