Er habe vor keinem Tier Angst, nur vor dem Menschen, sagt Rolf Müller. Foto: Lisa Welzhofer

Warum Rolf Müller auf der Schwäbischen Alb fünf Trampeltiere und Dromedare hält und weshalb die Wüstenschiffe so gut ins Schwäbische passen.

Hechingen - Rückblickend hätte Rolf Müller länger gewartet. Hätte nicht direkt nach dem großen Brand eigene Kamele gekauft, sondern ein bisschen Zeit verstreichen lassen, um die Sache dann mit klarem Kopf planen zu können. „Aber die Kamele so schnell zu holen, war eine Art Traumabewältigung“, sagt der 37-Jährige. Und wer weiß, wenn er tatsächlich gewartet hätte: vielleicht gäbe es seine Albkamele nicht, die jetzt so friedlich um ihn herum grasen, während er seine Geschichte erzählt.

Rolf Müllers Trauma ist der 31. Januar 2013. In dieser Nacht brennt der Kamelhof in Rotfelden bei Calw ab, auf dem er damals angestellt war, den er seit der Kindheit kennt, weil die Eltern in Rotfelden eine Filiale ihrer Bäckerei betreiben. Bei dem Feuer sterben fast alle der knapp 100 Tiere, Rolf Müller erfährt noch in der Nacht davon. Die Mitarbeiter werden von der Polizei befragt. „Jeder war damals verdächtig“, erzählt Rolf Müller. Die tatsächliche Ursache für den Brand ist bis heute unklar.

Vielleicht auch deshalb sitzt er kurze Zeit später in Biggi Bauers Haus in Höfendorf auf der Schwäbischen Alb. „Rotz und Wasser“ habe er geheult, erinnert sich die Sozialpädagogin. Die beiden kennen sich vom Rotfeldener Hof. Als Sozialpädagogin setzt Biggi Bauer die Tiere in der Therapie mit Jugendlichen ein. Vielleicht erkennt sie, dass Rolf Müller einfach nicht warten kann. Jedenfalls finden die zwei Kamele, die er kurz kauft, auf ihrem Grundstück ein erstes Zuhause.

Rolf Müller ist einer, der nicht ohne Tiere sein will. Zum Überleben braucht er bis heute seinen gelernten Brotjob als Bäcker, aber zum Leben braucht er die Vierbeiner. Nach den Anfängen bei Biggi Bauer mietet Rolf Müller, der auf dem zweiten Bildungsweg Zootierpfleger mit Schwerpunkt Kamelarten gelernt hat, einen eigenen Hof in Höfendorf. Er beginnt, die Tiere für den Umgang mit Menschen zu trainieren, ihnen kleine Kunststücke beizubringen, holt weitere Kamele dazu. Aber die ersten zwei Jahre sind finanziell hart. 1500 Euro kostet ein Tier jährlich im Unterhalt. Anfangs verdient Müller mit den Kamelen nichts, er muss zwei von ihnen wieder verkaufen. Auch deshalb wäre er das Ganze im Rückblick langsamer angegangen. Aber nach und nach öffnet er den Hof für Besucher, Buchungen für Feste, Spaziergänge und Camel-Light-Dinner kommen dazu. Damit kann er die Hälfte der Kosten decken, Tendenz steigend.

Wie Rolf Müller mit seinen Kamelen lebt und arbeitet: Klicken Sie auf das Video von Alexander Bauknecht.

Immerhin mit den Bewohnern von Höfendorf hatte er Glück. Sie haben kein Problem mit Müller und seinen Mitbewohnern. Klar, wenn aus seinem Pferdeanhänger an der Raststätte ein Kamel guckt, oder er mit den Tieren zum Wiegen ins Schotterwerk spaziert, schütteln manche den Kopf. Aber ansonsten fügen sich die Wüstentiere – vielleicht liegt’s an den Höckern, vielleicht am sparsamen Wesen – erstaunlich harmonisch in die Alblandschaft ein. Und wenn die Kuh vom Nachbarn muht, dann antworten die Wüstentiere halt mit einem ähnlich dumpfen lang gezogenen Laut.

Heute leben fünf Kamele – das ist der Überbegriff – auf dem Hof: Das Trampeltier Shanaya (zwei Höcker), die Dromedare Said, Marisol und Humphrey (ein Höcker) und das Tulu Elvis, eine Kreuzung aus Trampeltier und Dromedar. Müller hat die Tiere aus ganz Deutschland zusammen geholt, vom Zirkus und aus Kamelfarmen. Nur Shanaya war von den Behörden beschlagnahmt worden, weil sie unter unwürdigen Bedingungen gehalten wurde. Abgemagert sei sie gewesen, als sie zu ihm kam, verstört und aggressiv. Bis heute sei sie „eine Zicke“, sagt der Besitzer und lächelt kurz. Rolf Müller – beige Outdoorhose, schwarzes T-Shirt, direkter Blick – ist keiner, der pathetisch wird, wenn er über seine Tiere spricht. Um sie zu charakterisieren, reichen ihm ein, zwei Worte: Elvis, der Typ fürs Grobe, Humphrey, das Sensibelchen, die verschmuste Marisol und der sanfte Hengst Said – sie sind schon eine Art Familie für ihn, aber Rolf Müller kann trennen zwischen Mensch und Kamel.

Warum Müller Brehms Tierleben nicht mag

„Man kann ein Tier in Gefangenschaft niemals artgerecht halten, sondern nur tiergerecht“, sagt er zum Beispiel. Müller hat schon in Zoos und Nutztierbetrieben gearbeitet, wo es seiner Meinung nach nicht einmal tiergerecht zuging. Mit seinen Kamelen versucht er, dieses Ideal umzusetzen. Deshalb leben seine Wüstenschiffe in einem offenen Stall mit mehr als den vorgeschriebenen 15 Quadratmetern überdachter Fläche pro Tier, von dem aus sie ins Freie können. Deshalb kann man sie besuchen, aber „dass alle paar Minuten ein anderer auf ihnen reitet, das gibt es nicht“.

Einen sonnigen Tag wie diesen verbringen die beigen Riesen auf der Weide, gleich neben den beiden Schweinen, die Müller ebenfalls hält. Die samtäugige Marisol liegt im Schatten einer kleinen Hütte, der weißfellige Elvis, mit seinen zwei Metern der größte, knabbert an einem Baum, die anderen kauen am Gras – und ernähren sich damit ungesund. „Junges Gras ist für Kamele wie Fastfood für den Menschen. Es schmeckt, aber sie sollten nur kleine Mengen davon fressen, denn es enthält zu viel Eisweis für sie“, sagt Rolf Müller. In der Hauptsache fressen seine Tiere Stroh und Heu. Artgerecht wäre es zum Beispiel, sie mehrmals im Jahr längere Zeit ohne Futter und Wasser zu lassen, so wie es in freier Wildbahn der Fall ist.

Man kann viele solcher zoologischer Details von Rolf Müller erfahren, während man mit ihm zwischen den Kamelen steht, die kurz den Kopf senken, gucken oder schnuppern und sich dann wieder dem Grün zuwenden. Oder wenn man ihn dabei beobachtet, wie er sie freundlich, aber bestimmt in ihre Schranken weist („Zurück!“) oder sich auf Marisols breite Flanke legt, die Wange kurz an ihren Hals geschmiegt.

Etwa, dass die durchschnittliche Lebensdauer in Gefangenschaft bei rund 36 Jahren liegt. Oder dass ein einjähriges, noch untrainiertes Kamel etwa 4000 Euro kostet, das teuerste Rennkamel im arabischen Raum allerdings für 90 Millionen Euro den Besitzer wechselte. Und auch, dass Kamele Hornhaut an Stellen wie Ellbogen, Knie und Fersen haben, die sie vor dem heißen Wüstenboden schützt und dass sich ihre Nasenlöcher verschließen können, um Blätter von dornigen Büschen zu fressen. Intelligent seien Kamele, sehr gelehrig und deshalb trainierbar, aber auch nachtragend. Wenn sie jemand schlecht behandelt, merken sie sich das jahrelang. „In Indien hat ein Kamel einen Bauern überrannt, der es Jahre zuvor misshandelt hatte“, sagt Rolf Müller. Es ist klar, auf wessen Seite er steht.

Um die Vorzüge seiner Schützlinge zu verdeutlichen, vergleicht Müller sie gern mit anderen Tieren. Zum Beispiel können vom Futter und Wasserverbrauch einer Kuh sechs Kamele überleben. Außerdem seien Kamele die „Delfine der Alb“, sagt er, und meint damit ihre therapeutische Wirkung. Regelmäßig kommt zum Beispiel eine Spastikerin auf seinen Hof. Das Zusammensein mit den Paarhufern entspannt die Frau.

Rolf Müller ist auch so etwas wie ein Kamel-Botschafter. Dass die sparsamen Säuger die Nutztiere der Zukunft sind, davon ist er überzeugt. Und auch von der Qualität der Milch, die Vitamine und Enzyme enthalte und im Rohzustand gegen Magen- und Darmerkrankungen helfen könne. Viel „Quatsch“ und veraltetes Wissen seien über Kamele im Umlauf, sagt Müller. Vor allem auf den Zoologen Alfred Brehm (Brehms Tierleben) ist er nicht gut zu sprechen. Der hatte die Tiere als dumm, feige und boshaft beschrieben.

Tatsächlich kann man sich das auch nicht vorstellen, wenn man sie eine Weile auf Rolf Müllers Hof beobachtet. Im Gegenteil: Spontansympathisch werden einem diese Tiere mit dem Schlafzimmerblick, wie sie ihre Zeit mit kauen und faulenzen verbringen und eine sehr schwäbisch-genügsame Form des Hedonismus leben.

Ende Juli sind die Albkamele von Höfendorf ins 15 Kilometer entfernte Hechingen gezogen. Vier Stunden zog die Karawane, im Wogeschritt der Kamele übers Land. Das Ziel: ein Aussiedlerhof direkt am Stadtwald, ein Hektar Auslauf, in der Ferne sieht man die Burg Hohenzollern. Der einstige Kuhstall wurde in ein Kamelgehege umgebaut. Im Melkraum ist jetzt Rolf Müllers Büro. Zu den Wüstentieren und Schweinen sind noch junge Strauße gekommen. Die Mitglieder eines Fördervereins, der sich in diesem Jahr gegründet hat, helfen ehrenamtlich mit. Seither gibt es einen auch Biergarten und regelmäßige Öffnungszeiten.

Der Tierfreund hat hier viel vor. Er will züchten und Dressuren einstudieren und gemeinsam mit einer Therapeutin ein professionelles Angebot zur tiergestützten Therapie für Menschen mit und ohne Behinderung erarbeiten.

Im Stall zeigt Rolf Müller auf ein Gittertor, das in der Brunftzeit Hengst Said von den Stuten trennen wird. Das Tor stammt vom Kamelhof Rotfelden. Rolf Müller hat das Trauma in seinen Traum verwandelt.