„Stadt der Türme“ nennt sich Rottweil – der gotische Kapellenturm rechts unten wird längst überragt vom ThyssenKrupp-Testturm Foto: Grohe

Mögen Bürger vielerorts gegen die Verspargelung der Landschaft protestieren – in Rottweil ist davon keine Rede. Dabei wächst hier ein Bauwerk aus der Erde, das höher ist als der Stuttgarter Fernsehturm.

Rottweil - Wenn die Turmbauer in luftiger Höhe ihren Kran aufstocken, herrscht unten auf der Erde Volksfeststimmung. „Am Wochenende haben wir schon mal 1500 Leute hier“, sagt Peter Osterstock vom Bauherrn Thyssen-Krupp. Es macht ja auch staunen, wie Hydraulikkraft den oberen Teil des gelben Monstrums anhebt, um ein weiteres Element dazwischenzufügen. Das hat etwas von Münchhausen, der sich am eigenen Schopf in die Höhe zieht.

Bier wird aber nicht ausgeschenkt am Aussichtspunkt mit den Infotafeln, die Zaungäste der Baustelle berauschen sich vielmehr am Blick. In 155 Meter Höhe findet ihr Auge gegenwärtig Halt, doch müssen sie den Kopf immer weiter in den Nacken legen. Denn der Turm wächst jeden Tag an die drei Zentimeter. „Der schwankt ja jetzt schon“, sagt eine ältere Frau, die sich nicht vorstellen kann, dass die Arbeiter im August am Ziel sein wollen.

244 Meter wird die Betonröhre dann messen, so viel wie kein anderes Bauwerk in Baden-Württemberg. Wenn zuletzt der spiralförmige Mantel aus Kunststoff und Metall den Stamm umhüllt, werden es noch zwei Meter mehr sein. So viel sei nötig, um moderne Fahrstühle zu testen, sagen die Techniker von Thyssen-Krupp Elevator, einem der größten Aufzughersteller der Welt. Der Essener Konzern will mitschwimmen im globalen Trend zu immer mehr und immer höheren Wolkenkratzern.

Den Auftrag beim One World Trade Center weggeschnappt

830 Meter misst derzeit das höchste Gebäude der Welt, das Burj Khalifa in Dubai, die 57 Fahrstühle stammen vom Konkurrenten Otis. Dafür hat Thyssen den Amerikanern den Auftrag beim One World Trade Center in Manhattan weggeschnappt.

Die Express-Lifte legen dort zehn Meter in der Sekunde zurück, das ist viel, reicht aber offenbar nicht für die Top-Liga. Denn jeder Meter mehr bedeutet für die Passagiere zusätzliche Wartezeit. „Wenn wir nicht 15 Meter in der Sekunde bringen, werden wir gar nicht mehr aufgefordert zu bieten“, sagt Osterstock, der das Projekt koordiniert. Deshalb müsse man erforschen, wie sich die Kabinen schneller bewegen, wie man sie wirkungsvoll abbremst und wie man sie mit Magneten statt mit Seilen durch die Vertikale zieht. Deshalb baut Thyssen den Turm.

Eigentlich wollte das Unternehmen ja schon wieder abziehen, weil sich der ursprünglich erkundete Bauplatz im Neckartal als nicht tragfähig erwies. „Das war eine Enttäuschung“, sagt Osterstock. Denn der Standort war ja nicht zufällig gewählt worden: Rottweil liegt nah an der Fahrstuhlfabrik in Neuhausen/Fildern, nahe am Forschungszentrum in Pliezhausen und nahe an den großen Hochschulen von Stuttgart und Zürich, deren Ingenieure Thyssen-Krupp braucht.

Doch dann kam Rottweils OB Ralf Broß und bot auf der Anhöhe eine Alternative an. Innerhalb von einem Jahr haben die Manager zusammen mit dem Gemeinderat den Boden für den Turm bereitet. Gemessen an der Akzeptanz, die er in der Bevölkerung genießt, können sie dabei nicht so viel falsch gemacht haben.

Der OB hat das Vorhaben zur Chefsache gemacht

In Bürgerversammlungen und Präsentationen, mit Ballon-Simulationen und Workshops zogen sie alle Register der Beteiligung. Und im Hintergrund stand stets ein OB, für den das Vorhaben Chefsache war. „Die Menschen freuen sich auf unseren Turm“, sagt Broß, „er ist eine große Chance für unsere Stadt.“ Er kann schwärmen von der Zusammenarbeit von Bauingenieuren und Architekten, vom gelungenen Ergebnis eines Diskurses zwischen Kunst und Technik – schließlich zeichnen die Architekten Helmut Jahn (Chicago) und Werner Sobek (Stuttgart) für die futuristische Hülle verantwortlich. Der Turm sei eine gelungene Kombination von Bauwerk und Design, sagt Broß. Und das wüssten auch die Bürger: „Wir haben den steten Rückenwind gespürt, das war kein laues Lüftchen.“

In der Tat ist es nicht leicht, in Rottweil einen Gegner des Turms zu finden. Eine Bürgerinitiative dagegen hat sich nie organisiert, bei mehreren Umfragen der örtlichen Zeitung gaben vielmehr drei Viertel der Bevölkerung ein positives Votum ab. Die Stadt wirbt mit dem Bauwerk auf ihrer Homepage, sie organisiert Baustellenführungen und hat eigens zusätzliche Gästeführer eingestellt: „Es kommen viele extra wegen der Baustelle“, heißt es im Touristenbüro.

Eigentlich mangelt es Baden-Württembergs ältester Stadt, sie ist eine Römergründung, ja nicht an Bekanntheit und Renommee. „Stadt der Türme“ nennt sie sich seit jeher wegen ihrer vielen Kirchen und Wehrbauten. Der staufische Hochturm zum Beispiel misst stolze 54 Meter, der Kapellenturm sogar 70 Meter.

Seit der Künstler Matthäus Merian die frühere Reichsstadt „Rotwyl“ 1643 in Kupfer stach, hat sich eigentlich gar nicht so viel verändert. Würde er sie heute wiedergeben, wüchse allerdings ein riesiger Stift bis an den oberen Bildrand – und das ist der Grund, warum der eine oder andere Rottweiler eben doch mit dem Neubau hadert.

"Würde man in San Gimignano sowas bauen?"

„Sie sehen den Turm doch schon jetzt von vielen Stellen, und er wird noch doppelt so hoch“, sagt der ehemalige Stadtarchivar Winfried Hecht. Ihn stört vor allem, dass der futuristisch anmutende Bau nicht in den Kontext von Stadt und Landschaft passt – jene hügelig-karge Landschaft der Baar, die Rottweil umgibt wie ein grüner Rahmen: „Da stimmen die Maßstäbe nicht mehr.“

Das mag nostalgisch sein, räumt der promovierte Historiker ein, und im Gemeinderat hat man ihm ja auch vorgehalten, er wolle eine „museale Puppenstube“. Doch was für Köln gelte, wo dem Dom wegen eines Hochhausprojekts in der Nähe beinahe das Welterbesiegel aberkannt wurde, habe doch auch für Rottweil Berechtigung. Schließlich stehe die Altstadt unter Denkmalschutz. „Würde man in San Gimignano, der toskanischen Stadt der Türme, ein solches Bauwerk dulden?“, fragt er provokativ.

Auf eine vierstellige Zahl schätzt er die Gruppe der Gegner in der 24 000-Einwohner-Stadt. Doch er weiß auch, dass sie in der klaren Minderheit sind. Ihnen bleibe nichts anderes, als penibel die ökologischen Ausgleichsmaßnahmen zu kontrollieren, mit denen Thyssen-Krupp den Landschaftsverbrauch kompensiert.

Dabei habe das Projekt die ökologische Absolution ja bereits erhalten, merkt Hecht gallig an. Nicht, weil auch die örtlichen Grünen das Bauwerk gar nicht so übel finden, sondern weil auch Umweltminister Franz Untersteller die Baustelle bereits besichtigt hat. Der Grünen-Politiker lobte dabei die Bemühungen des Unternehmens, den Turm energieeffizient und ressourcenschonend zu betreiben.

Derweil wirbt Thyssen-Krupp im Zentrum auf großen Tafeln mit der Aufschrift „Tradition trifft Innovation“: Der Testturm erscheint darauf am Ende einer langen Reihe von Vorgängern. Um auch die letzten Zweifler zu überzeugen, erinnert der Oberbürgermeister gern an den Bau des Stuttgarter Fernsehturms. Der sei aus der Landeshauptstadt doch auch nicht mehr wegzudenken – dabei habe es anfangs auch dort Widerstand gegeben.

„Widerstand – warum denn?“, fragt ein Besucher und fotografiert die Arbeiter mit einem Teleobjektiv. Wie viele andere freut er sich darauf, mit einem gläsernen Aufzug bis auf die Plattform fahren zu können, wenn der Turm im nächsten Jahr fertig ist. In 232 Meter Höhe, so verspricht der Bauherr, kann man bei gutem Wetter Alpensicht genießen – und das Gefühl, auf Deutschlands höchstem öffentlichem Aussichtspunkt zu stehen.

Ein paar Absagen hat es allerdings schon gegeben. Bungee-Springer haben angefragt, ob sie von der Plattform springen dürfen. Sie dürfen es nicht. Und weil es auch in einem Testturm für Fahrstühle ein Treppenhaus geben muss, haben sich auch Freunde des Treppenlauf-Sports nach einem neuen Revier erkundigt.