Gerade an den Grundschulen fehlen hierzulande Lehrer. Foto: dpa

Der Linken-Politiker Helmut Holter, seit 2017 Bildungsminister in Thüringen und derzeit Präsident der Kultusministerkonferenz, plädiert für eine größere Durchlässigkeit zwischen den verschiedenen Schularten.

Stuttgart - Thüringens Bildungsminister Helmut Holter begrüßt, dass es jetzt eine öffentliche Debatte über den Lehrermangel gibt. Er wirbt dafür, dass die Lehramtsanwärter für den Unterricht bestimmter Jahrgangsstufen ausgebildet werden – und dann an verschiedenen Schularten eingesetzt werden können.

Herr Holter, Sie werfen den Ländern vor, sie hätten keine vorausschauende Politik gegen den Lehrermangel gemacht. Was wurde genau versäumt?

Es gab spätestens seit den Zweitausender Jahren das Mantra, dass Personalentwicklung im öffentlichen Dienst grundsätzlich Personalabbau bedeuten würde. Schlagworte wie „Schuldenbremse“ und „Schwarze Null“ hatten Konjunktur. Hinzu kam noch die Banken- und Wirtschaftskrise, in deren Folge die Steuereinnahmen zurückgegangen sind. Es geht mir nicht um Vorwürfe, aber aus heutiger Sicht sollten wir uns als Länder eingestehen, dass die Prioritätensetzung falsch war und korrigiert werden muss. Der Staat hat die Aufgabe, Vorsorge für die Menschen zu treffen, gerade in so einem wichtigen Bereich wir Bildung. Deswegen bin ich froh, dass wir jetzt eine öffentliche Debatte haben und durch die aufkommenden Probleme erkannt wird, dass Investitionen in Bildung Priorität haben müssen.

Wie lassen sich die wiederkehrenden Wellen bei der Lehrereinstellung künftig vermeiden?

Wenn es ein Patentrezept gäbe, wären wir wahrscheinlich nicht in der aktuellen Situation. Ganz vermeiden lassen sich solche Wellen nicht, aber mit langfristiger Planung lassen sich solche unerwünschten Effekte reduzieren. Die Statistikämter haben viele Berechnungen, wie sich die Schülerzahl in den nächsten Jahren entwickeln wird. Gleichzeitig wissen wir in den Bildungsministerien der Länder, wie viele Lehrerinnen und Lehrer wir im System haben, und können mit verschiedenen Modellen auch voraussagen, wann die Lehrkräfte in den Ruhestand gehen. Aus all diesen Daten lässt sich eine Lehrerbedarfsprognose berechnen, und das wurde ja in der Vergangenheit auch schon getan. Das Problem war, dass zwar die Studien vorgelegt und diskutiert wurden, aber es wurde nicht konsequent danach gehandelt. Dabei können wir auch bei Achtung der Hochschulautonomie die Zahlen der Lehramtsstudierenden steuern, wenn wir für den Lehrerberuf werben und den jungen Menschen deutlich machen, mit welchen Fächerkombinationen sie zukünftig gebraucht werden.

Sie sprechen sich auch für eine einheitliche Lehrerausbildung als Entlastungsmaßnahme aus. Soll diese von der Grundschule bis zur Oberstufe gelten?

Was ich gefordert habe, ist eine größere Durchlässigkeit zwischen den verschiedenen Schularten. Der derzeitige Lehrermangel ist ja kein absoluter Lehrermangel, sondern in vielen Ländern haben wir im Bereich der Gymnasien noch genügend Bewerber oder sogar einen Bewerberüberhang. In den anderen Schularten ist die Bewerberlage dagegen unbefriedigend. Deswegen möchte ich, dass Gymnasiallehrer auch an Realschulen unterrichten können und habe vorgeschlagen, dass wir über eine schulstufenbezogene Lehrerausbildung nachdenken sollten. Das bedeutet also keine Einheitsausbildung von der Grundschule bis zur Oberstufe, sondern dass die Lehramtsanwärter für den Unterricht bestimmter Jahrgangsstufen ausgebildet werden und dann an verschiedenen Schularten eingesetzt werden können. Die Vorliebe fürs Gymnasium kommt doch häufig daher, dass Abiturienten am liebsten wieder in die Schulart möchten, in der sie den Großteil ihrer eigenen Schullaufbahn verbracht haben. Wir müssen den angehenden Pädagogen zeigen, dass die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen an anderen Schularten ebenso reizvoll, anstrengend, aber eben auch erfüllend ist.

Bedeutet einheitliche Ausbildung auch einheitliche Bezahlung?

Wir sollten als Gesellschaft wenigstens darüber diskutieren. Jedem ist klar, dass Mathe-Unterricht in der zweiten Klasse und Latein in der elften Klasse zwei verschiedene Dinge sind. Bezüglich der zu vermittelnden Unterrichtsinhalte sind die Ansprüche ganz andere. Gleich ist aber die pädagogische Verantwortung, die die Lehrkraft im Umgang mit Kindern und Jugendlichen hat. In der Schule geht es ja um viel mehr als die reine Stoffvermittlung. Lehrerinnen und Lehrer geben ihren Schülern Werte und Ideen mit, die sie durch ihr ganzes Leben tragen. Diese hohe Verantwortung zieht sich von der ersten bis zur zwölften oder dreizehnten Klasse. Deswegen will ich wenigstens hinterfragen, ob eine unterschiedliche Bezahlung weiter zeitgemäß ist.

Sie kritisieren Gehaltsunterschiede zwischen den Ländern. Sollten Lehrer überall gleich bezahlt werden?

Ich würde mir wünschen, dass wir da wieder zu einer stärkeren Harmonisierung kommen. Im Moment haben wir ja doppelte Unterschiede. Die Lehrkräfte sind in den Ländern je nach Schulart in verschiedene Entgeltgruppen eingruppiert, also A 12, A 13, und dann unterscheiden sich auch noch die Bruttoentgelte, die hinter diesen Gruppen stehen. Diese Situation hat zu einem Wettbewerb geführt, der für die finanzschwachen Länder schwer zu stemmen ist. Es ist aber unser Auftrag, den Kindern überall in Deutschland gleiche Bildungschancen zu garantieren. Deswegen plädiere ich dafür, diesen Wettbewerb wenigstens abzuschwächen.

Ist das föderalistische Bildungssystem überholt?

Nein, das denke ich nicht. Gerade der Bildungsföderalismus ist ja auch Innovationsmotor. Entscheidend ist, dass es uns gemeinsam gelingt, die bestehenden Probleme zu lösen, damit wir uns wieder auf die Entwicklung der Schulqualität konzentrieren können. Da kann jedes Land seine Stärken und sein individuelles Profil ausspielen.

Sie wollen das Image des Lehrerberufs heben. An welche Mittel denken Sie?

Alles beginnt mit mehr Wertschätzung. Vor 20 Jahren hieß es: „Lehrer werden kannst Du vergessen, einen Job bekommst Du nicht.“ Heute heißt es: „Lehrer werden kannst Du vergessen, da hast Du nur Stress.“ Lehrer erbringen tagtäglich Höchstleistungen im Unterricht und danach. Das muss in der Öffentlichkeit stärker gewürdigt werden, denn mit diesem Beruf geht eine ungeheuer große Verantwortung einher. Ältere Lehrer kennen das Gefühl, wenn sie nach einigen Jahren ehemalige Schüler auf der Straße treffen und von ihnen hören, wie sehr sie selbst den Lebensweg des jungen Menschen geprägt haben.

Besonders groß ist der Lehrermangel in ländlichen Regionen. Wären Zulagen eine Lösung?

Generell brauchen wir gerade im ländlichen Raum eine Willkommenskultur für junge Lehrkräfte. Da geht es um Unterstützung bei der Wohnungssuche, bei der Suche nach einem Kindergartenplatz und vieles mehr. Da sind auch die lokal Verantwortlichen gefordert. Um den ländlichen Raum zu stärken, sind solche Bindekräfte wichtig. Eine Zulage könnte ein weiteres mögliches Mittel sein, aber da werbe ich wiederum für ein abgestimmtes Vorgehen zwischen den Ländern.