Thomas Zehetmair hat Bachs Solowerke für Violine zum zweiten Mal aufgenommen – mit guten Gründen, die man hören kann. Der Österreicher, der seit 2019 das Stuttgarter Kammerorchester leitet, lässt Bachs Musik singen und begreift die Stücke als vielstimmige Dialoge.
Stuttgart - Er spielt nicht nur Neues, aber er sucht das Neue, überall. Unter den neugierigen Musikern ist Thomas Zehetmair einer der neugierigsten und experimentellsten: Beethoven hat vor ihm noch kaum einer mit Darmsaiten gespielt, und sein Streichquartett war eines der ersten, das sich dem Wagnis des Auswendigspielens stellte. Zur modernen und zeitgenössischen Musik hat der Geiger eine innige Beziehung: Die Violinkonzerte von Bernd Alois Zimmermann, Bruno Maderna, Béla Bartók, Heinz Holliger und Karol Szymanowski hat er auf CD aufgenommen – Letzteres mit dem seinerzeit noch blutjungen Simon Rattle am Pult des Birmingham Symphony Orchestra –, und immer wieder stellt er sich auch live den technischen und intellektuellen Herausforderungen aktueller Partituren. Aber Zehetmair mag sich nicht einschränken. Sein Blick umfasst auch ältere Musik vom Barock bis zur Romantik, und seit gut zwei Jahrzehnten nimmt er immer wieder auch die Perspektive des Dirigenten ein. Seit dieser Saison ist der 58-Jährige künstlerischer Leiter des Stuttgarter Kammerorchesters. Dort dirigiert er, spielt Geige, ist Solist, aber als Primus unter Pares, als Erster unter Gleichen. Das Ensemble ist glücklich über einen Chef, der – endlich! – ein Streicher-Versteher ist. Also einer, der weiß, wie Töne auf Saiten entstehen, geformt und gestaltet werden.
Über Musik sprechen, indem man sie einfach selbst sprechen lässt
Thomas Zehetmair ist kein Verbalvirtuose. Was er über Musik sagt, klingt oft trocken, ja spröde, und am zwingendsten spricht er über seine Kunst, indem er sie einfach ausübt. Auch im Aufnahmestudio. Seit jeher hat Thomas Zehetmair seine Neugier dokumentiert, erst auf Schallplatten, dann auf CDs. Etwa vierzig Tonträger mit ihm als Solisten oder als Dirigent sind bis heute erschienen. Bachs Sonaten und Partiten für Violine solo hat er jetzt zum zweiten Mal eingespielt. Warum?
Als der Geiger die Werke 1983 zum ersten Mal (für die Teldec) aufnahm, stand er noch stark unter dem Einfluss Nikolaus Harnoncourts. Dessen Motto „Eine gute Aufführung ist immer am Rande des Abgrunds“ zitiert und lebt er heute immer noch. Seine gerade erschienene Neueinspielung bei ECM macht allerdings auch deutlich, wie sehr er sich mittlerweile von seinem Mentor befreit hat. Die vor 13 Jahren erschienene Einspielung enthält, obwohl Zehetmair damals ein modernes Instrument wählte, mitten in einer Überfülle von (sehr präzise ausformulierter!) barocker Rhetorik Momente des Starren und Dogmatischen. Jetzt spielt Zehetmair Bach auf alten Instrumenten: Zu hören ist bei den Partiten eine Südtiroler Geige aus Bachs Geburtsjahr 1685, bei den Sonaten Zehetmairs eigene, um Bachs Todesjahr 1750 herum gebaute Eberle-Geige; verwendet werden außerdem zwei unterschiedliche barocke Bögen. Und die Interpretationen klingen bei aller Lust am Spiel mit Gegensätzen so wunderbar gelöst, dass man, wäre der Musiker ein Jahrzehnt älter, von Altersgelassenheit schreiben könnte.
Die alten Instrumente klingen weniger kantig als die modernen
Hier wie dort geht es um größtmögliche Klarheit. Um die Baupläne von Bachs Musik. Aber es ist ein Singenwollen hinzugekommen. Zehetmairs Phrasierungsbögen, die auch in Bereichen des Leisen immer Substanz haben, wirken weiter gespannt, durchgestalteter und atmender als ehedem. Sein Ton ist nach wie vor extrem variabel, mal satt und kraftvoll, mal spirrig, mal derb, mal geradezu unruhig. Mit diesem Ton hat der Geiger vor ein paar Jahren sogar Paganinis Capricci vom romantischen Virtuosen-Image befreit und in die Moderne katapultiert.
Bei Bach denkt er jetzt weiter, fügt mehr zusammen, will Geschichten erzählen – was erwartungsgemäß am packendsten beim Gang durch die zerklüfteten Klangmassive der d-Moll-Chaconne gelingt, aber auch bei Sätzen wie etwa der Allemande in derselben Suite, die Zehetmair spielt, als sei sie mehrstimmig gedacht – mit hingetupften Bassnoten und einer fast dialogisch gedachten Melodielinie.
Hier ist Zehetmair eloquent, ja geradezu redselig. Selbst virtuose, sehr rasch genommene Tänze oder Sätze wie die Fuge der A-Moll-Sonate, die sonst gerne mal nach Schweiß und Arbeit riecht, haben hier etwas Leichtes und Spielerisches. Dass die alten Instrumente außerdem erstaunlicherweise oft weniger kantig klingen als zuvor das moderne, liegt auch daran, dass Zehetmair bei die Kraft etwas zurücknimmt. Hinzu kommen ein ungemein fantasievoller Umgang mit Verzierungen (vor allem bei den Wiederholungen), überhaupt eine große Freiheit in der Gestaltung und ein feiner Umgang mit (meist eher hell getönten) Klangfarben. Der Spannungsbogen hängt nie durch. Eine fantastische Aufnahme – nicht so nah am Ätherischen wie andere Einspielungen, dafür aber auf himmlische Weise irdisch.
Bach: Sei Solo – Die Sonaten und Partiten für Violine solo. Thomas Zehetmair. ECM